Berlin/Philharmonie: Simon Rattle bringt Schönbergs “GURRE-LIEDER”, 27.10.13
Die Gurre-Lieder zu bändigen und sie trotz des Rekord-Aufwands von Instrumenten und Stimmen durchhörbar darzubieten, ist eine Riesenaufgabe bei diesem spätromantischen, alle Grenzen sprengenden Werk, das Anton Schönberg noch in der Nachfolge von Wagner und Brahms zeigt.
Philharmonie, die Gurre-Lieder unter Rattle in Großbesetzung, Foto Monika Rittershaus
Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker, die das gigantische Stück schon im September 2001 zum Erfolg führten, bieten auch diesmal eine weithin überzeugende Leistung. Anfangs lässt Rattle die vier Harfen schmeicheln, doch dann greift er geschwind zu und bündelt die Klangmassen.
Das Blech glitzert, die Hörner beglücken, die Streicher halten versiert die Stellung. Ganz vertieft sich Rattle in diese überbordende Musik, geht – wie er es gerne tut – in die Vollen, konzentriert sich auf seinen Klangkörper, übergeht dabei aber die Vokalisten.
Daher hat Soile Isokoski, die mit lyrischem Sopran die von König Waldemar heiß geliebte Tove verkörpert, oft keine Chance. Nur bei leiseren Orchesterstellen ist die Feinheit ihrer Stimme wahrzunehmen. Mit pointiertem Mezzo kann sich Karen Cargill als Waldtaube, die vom Tod Toves berichtet, etwas besser durchsetzen.
Der österreichische Übersetzer (Robert Franz Arnold) hat gemäß dem Text von Jens Peter Jacobsen dieser Waldtaube dreimal den Satz in den Mund legt: „Weit flog ich, Klage sucht’ ich, fand gar viel!“ Bei Schönberg sind nun Wagners Nornen nicht weit. Auch manche Wagner-Leitmotive tauchen im Orchesterpart bruchstückhaft auf.
Mit mehr Power kann sich der Heldentenor Stephen Gould behaupten, wird aber vor Anstrengung oft ganz rot im Gesicht. Dermaßen überfordert und vernachlässigt sollten die Sänger nicht werden. Im ersten Teil, von Schönberg von 1900-1903 komponiert, übertreiben es Rattle und die Seinen mit der Lautstärke.
Im zweiten Teil aus den Jahren 1910/11 passt das irgendwie besser, bilden doch die Chöre in Kompaniestärke – einstudiert und zusammengehalten von Nicolas Fink – ein Gegengewicht. Zur vokalen Tat vereinen sich, dicht bei dicht stehend, der Rundfunkchor Berlin, der MDR Rundfunkchor Leipzig, der WDR Rundfunkchor Köln und der Kor Vest Bergen. Die Philharmonie wird zum Klangtempel.
Klar, dass sich Stephen Gould auch jetzt wieder mühen muss. Seine Verzweiflung über Toves Tod schreit er förmlich hinaus, übt auch Kritik an dem gar nicht lieben Gott. Dem Wahnsinn verfallen ruft er seine gefallen Krieger aus den Gräbern. Große Furcht erzeugend umlagern sie Schloss Gurre. Der Horror in schaurig-expressivem Fortissimo.
Den dadurch verängstigten Bauern singt textverständlich und mit kräftigem Bariton der US-Amerikaner Lester Lynch. Aus Klaus-Narr macht Burkhard Ulrich, Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin, mit hellem Tenor und rollenden Augen ein irrwitziges Kabinettstückchen. Auch Thomas Quasthoff, als Sprecher fast Sprechgesang bietend, ist große Klasse. Diese Drei lässt Rattle gewähren.
Nach Tod, Trauer, Wahnsinn und Gespensterschauer folgt die Erlösung. Der schlimmen Nacht folgt der helle Tag. „Seht die Sonne,“ singen prachtvoll die Chöre. Diesen Jubelruf quittieren die begeisterten Zuhörer mit ebensolchem Jubel, mit Bravos und stehenden Ovationen. Insgesamt gesehen ein Riesenabend.
Ursula Wiegand