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BERLIN/ Konzerthaus: A QUIET PLACE von Leonard Bernstein. Konzertante Uraufführung der Kammerfassung

28.11.2013 | KRITIKEN, Oper

Berlin/ Konzerthaus: Leonard Bernsteins: „A QUIET PLACE”, konzertante Uraufführung der Kammerfassung, 27.11.2013

Unbenannt
Kent Nagano. Foto: Felix Bröde

Wer nur Leonard Bernsteins schmissige „West Side Story“ mit ihren Ohrwürmern kennt, wird beim kurzen Hineinhören in „A Quiet Place“ kaum vermuten, dass der auch diese Musik geschaffen hat, solch einen weitgehend dissonanten Parcours durch Dodekaphonie über streng Serielles bis zu diatonischen Choralklängen. „Trouble in Tahiti“ hieß die zunächst einaktige, 110 Minuten dauernde Oper von Leonard Bernstein und dem Theaterregisseur Stephen Wadsworth.

Die aber stieß bei der Uraufführung am 17. Juni 1983 in Houston/Texas weitgehend auf Ablehnung. Nicht nur die ungewohnt extreme Komposition verstörte das Publikum, sondern auch das Thema: eine zerrüttete Familie mit all’ ihren, auch sexuellen Besonderheiten. Ein Tabubruch sondergleichen zur damaligen Zeit.

Da Bernstein selbst mit dieser ersten Fassung unzufrieden war, wurde sie revidiert und in eine dreiaktige Oper verwandelt, die 1984 in Mailand und dann – mit weiteren Korrekturen – 1986 unter Bernsteins Leitung in Wien aufgeführt und auf CD eingespielt wurde.

Der Maestro sah in diesem Werk einige seiner kreativsten Ideen verwirklicht, doch ein dauerhafter Erfolg stellte sich auch nach diesen Änderungen nicht ein, zumal die Darbietung wegen der erforderlichen 72 Instrumentalisten äußerst aufwändig war. Die New Yorker Neuproduktion in 2008 verpuffte ebenfalls.

Aus diesem Dilemma zog Garth Edwin Sunderland vom Leonard Bernstein Office, unterstützt vom Dirigenten Kent Nagano, die Konsequenzen. Er hat eine Kammerfassung für nur 18 Instrumentalisten geschaffen, die nach seiner Meinung das Beste aus der ersten und der revidierten Fassung kombiniert. Außerdem sind die einzelnen Teile neu geordnet.

Am heutigen Abend erleben wir im Konzerthaus Berlin die 105minütige konzertante Uraufführung dieser Zusammenfügung. Unter der Stabführung von Kent Nagano gestalten das Ensemble Modern und Vocalconsort Berlin sowie zahlreiche britische Sänger diese Bernstein-Hommage. „Bestattungsinstitut“, „Das Haus der Familie „ und „Der Garten“ heißen die drei Akte. Doch hinter den harmlosen Bezeichnungen verbergen sich ungeahnte Abgründe.

Anlass des Familientreffens ist der tödliche Autounfall von Dinah, Sams Frau. Wie es ein späterer, mit Keksen garnierter Abschiedsbrief nahe legt, war es ein Selbstmord. Das Ehepaar lebte getrennt. Auch die Kinder – die schöne Dede (Didi gesprochen) und der schwule Sohn, nur Junior genannt – waren weggezogen.

Doch „A quiet place“ ist diese Leichenhalle mitnichten. Statt Totenruhe und gesitteter Trauer beherrscht zunächst nur unverbindlicher Small Talk das Geschehen, das alsbald in einen familiären Showdown mündet.

Denn es sind viele persönliche Rechnungen offen, und alle lassen dem über die Jahre angestauten Frust vollen Lauf. Junior, auch psychisch gestört, legt am Sarg sogar einen (hier nicht gezeigten) Striptease hin.

Schon als Junge hatte er ein sexuelles Verhältnis mit seiner kleinen Schwester Dede, zuletzt eines mit Francois, ihrem jetzigen Mann, der schließlich dieser total kaputten Inzest-Familie die Leviten liest. Francois und der Junior sind also „bi“ und deuten damit laut Programmheft auch Bernsteins Veranlagungen an.

Sam, der Vater, zuvor immer ein Gewinnertyp, sieht sich durch den Selbstmord Dinahs plötzlich als Verlierer, regt sich darüber auf und entwickelt auch Schuldgefühle. Die heimgekehrte schöne Dede im leuchtend roten Kleid himmelt ihn jedoch an, wohl nicht nur in rein töchterlicher Zuneigung.

Liebevolle Gefühle hegt sie nach wie vor auch gegenüber dem Bruder. Beide schwärmen von ihrer Kinderzeit in dem von der Mutter gepflegten Garten und schlafen im Doppelbett. „I want you“, sagt Junior unvermittelt. Die deutsche Übersetzung „Ich liebe dich“ auf den Übertiteln trifft das Gemeinte nicht so ganz.

Aber noch mehr verlangt Junior nach der Liebe seines Vaters Sam, die der ihm stets verweigert hat. Erst ganz zum Schluss des Stückes schließt er seinen Sohn in die Arme. „Wir sind, wer wir sind,“ lautet das Fazit.

Engagiert musizieren die 18 Instrumentalisten Bernsteins wagemutiges, oft faszinierendes Werk. Auch die Interpreten der vier Hauptpersonen werfen sich voll und überzeugend in ihre Rollen. Mit klarem Sopran singt die aparte Claudia Boyle (Dede) ihre Partie. Mit Verve ruft Benjamin Hulett (Tenor) als Francois seine neue Familie zur Raison, schwärmt aber zärtlich für seine Frau Dede.

Gekonnt in Stimme und Mimik gestaltet Jonathan McGovern die krankhaften Ausbrüche von Junior. Pointiert singt sich Christopher Purves (Sam) mit kräftigem Bariton in Rage. Mit starkem Beifall quittiert das Publikum im fast voll besetzten Großen Saal die erbrachten Leistungen. Ob mit dieser Kammerfassung ein Durchbruch für Bernsteins letzte Oper gelungen ist, wird die Zukunft zeigen.

Ursula Wiegand

 

 

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