BERLIN/ Komische OperKurzkritik – Matter Einstand nach acht Monaten unfreiwilliger Pause: Tobias Kratzer setzt ein dramaturgisch gut durchdachtes Konzept akustisch in den Sand
Dominik Köninger als Graf Homonay. Foto: Monika Rittershaus
- In Berlin in die Oper zu gehen ist mühsam. Neben den doppelt gemoppelten oder getrippelten Maßnahmen (GGG plus Abstände plus während des gesamten Besuchs „FFP2“-Maske plus ausgefüllter Zettel mit den wichtigsten personenbezogenen Daten des Besuchers) gibt es ein 1h45 langes Programm ohne Pause, ohne Bewirtung (bei fast 30 Grad Außentemperatur), obwohl allerorts anderswo in Berlin längst alle die Außengastronomie besuchen ohne GGG, ohne Abstand ohne Maske.
- Drin gibt es eine der besten Operetten aus der Goldenen Ära der Wiener Operette. Eine gute Wahl nach einer langen Serie von genuin Berliner Operetten.
- Regisseur Tobias Kratzer “perspektiviert die Geschehnisse in einer aus dem Originalmaterial montierten Textfassung aus der Warte des k.u.k.-Offiziers Graf Homonay (die Figur ist eine Verschmelzung der beiden politisch rückwärtsgewandten Charaktere der Originalfassung: von Graf Peter Homonay und dem königlichen Kommissär Conte Carnero). Das Werk verhandelt die fiktionale Geschichte des lange im Exil lebenden Ungarn Sándor Barinkay, der seinen neuen Platz in der alten Heimat erst noch finden muss und dabei keinerlei Vorbehalte mitbringt – auch und gerade nicht jener von der herrschenden Schicht marginalisierten Gruppe gegenüber, die dem Stück seinen Titel gibt. Das Stück kann als einen künstlerische Auseinandersetzung mit dem Vielvölkerstaat der Donaumonarchie gedeutet werden. Die Dialogfassung von Tobias Kratzer ist aus dem Originaltext von Ignaz Schnitzer montiert und verdichtet.”
- Kratzer formt aus dem Ensemblestück ein der Stilvielfalt des Librettos entsprechendes diskursives Kammerspiel. Die Personenregie ist fein und wohl überlegt. Allerdings trifft Kratzer einige für die musikalische Wirkung höchst problematische, stimmungskillende Entscheidungen: Er verlegt das Orchester vom Graben auf die hintere Bühne. Das bewirkt einen dumpfen Orchesterklang und klingt, als hätte man Ohropax in den Gehörgängen. Die große Wirkung des opernhaft aufrauschenden Orchesters, etwa in der fantastischen Ouvertüre? Verschenkt. Während großer Ensembles, vor allem wenn die dramatische Sopranistin Mirka Wagner als grandiose Saffi über die Bühne fegt, wird das Orchester sogar nahezu unhörbar. Eine wahrlich neue Erfahrung! Zweitens darf der für diese Operette so wichtige Chor nicht auftreten, sondern ist unsichtbar noch hinter dem Orchester platziert. Wirkung abermals und noch fataler verschenkt. Das berühmte Couplet des Zsupán “Ja, das Schreiben und das Lesen” wird als schwarz-weiß Video eingeblendet. Der arme Philipp Meierhöfer (wahrlich eine Idealbesetzung der Rolle) muss dabei zusehen, wie seine schöne Baritonstimme nur als stumpfer Sound aus dem Lautsprechern kommt. Noch bizarrer ist die Idee, das “Werberlied” des Grafen Homonay als Schellack abzuspielen. Dominik Köninger darf dazu zwar ein bisserl singen. Unter die Haut geht das nicht.
- Die sehr gute Besetzung rekrutiert sich vornehmlich aus dem Hausensemble: Wir hörten und sahen außer den bereits Erwähnten einen feschen und draufgängerischen Thomas Blondelle als ziemlich heroischen Sándor Barinkay, eine rundbebrillte Alma Sadé als koloraturscharfe Arsena, Helene Scheiderman als großartig berührende Mirabella, den lyrischen Vorzeigetenor Julian Habermann als Ottokar, die Diva des Hauses Mirka Wagner als hochdramatische höhensichere Saffi sowie Katharina von Bülow als charaktervoll gezeichnete Czipra.
- Das Orchester und die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin litten unter der akustisch schlechten Platzierung und unter der spannungsarmen musikalischen Leitung von Stefan Soltész. Dazu kamen störende Koordinationsprobleme mit den Sängerinnen und Sängern.
- Das Bühnenbild (Nachbau zweier Bögen mit Figuren aus dem Innenraum des Hellmer und Fellner Baus der Komischen Oper als Kulisse vor dem Orchester) und die Kostüme von Rainer Sellmaier waren konventionell werkgetreu, das Video von Manuel Braun mit Bergen an an zerlegtem Schweinefleisch verzichtbar.
- Fazit: Ein gut gesungener, was die Personenregie anlangt, interessant konzipierter und final an den akustischen Realitäten gescheiterter Operettenabend.
- Regisseur Tobias Kratzer ließ sich aus familiären Umständen entschuldigen und kam also nicht vor den Vorhang.
- Barry Kosky wiederum überraschte das Publikum mit einer Preisverleihung. Geehrt wurden mit dem “Goldenen Flipper” zwei während der Pandemie herausragende, nicht künstlerische Mitglieder des Hauses.
Thomas Blondelle (Barinkay) und Mirka Wagner (Saffi). Foto: Monika Rittershaus
Dr. Ingobert Waltenberger