Weihnachtstrubel, stehend Vera-Lotte Böcker (Musetta), seitlich Nadja Mchantaf (Mimi), Günter Papendell (Marcello) copyright Iko Freese / drama-berlin.de
So jung und so frisch – genau so sollte Giacomo Puccinis „La Bohème“ auf die Bühne gebracht werden. Genau so hat Barrie Kosky sie an der Komischen Oper Berlin inszeniert und lässt auch erstmals alles auf Italienisch singen.
Zwar basiert das Geschehen auf einem Roman des Franzosen Henri Murger, veröffentlicht Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch die Handlung passt ebenso ins jetzige Berlin und manch andere Großstadt. Damals wie heute versuchten und versuchen junge freischaffende Künstler zu reüssieren, verlassen das womöglich gut situierte Elternhaus und ziehen lieber in eine Bruchbude, um eigenständig ihre Träume zu verwirklichen.
In dieser Inszenierung hausen sie in prekären Verhältnissen. Das in unfreundlichem Grau-Schwarz gehaltene Bühnenbild von Rufus Didwiszus lässt an ein Haus kurz vor dem Abriss denken. Später spielt die Handlung in einer Straße mit mausgrauen Häusern.
Doch die jungen Leute ficht das alles nicht an, und wenn sie nicht gerade Liebeskummer haben, sind sie putzmunter, lebensfroh und zu allerlei Schabernack bereit.
Übermütig turnt die „Viererbande“, Kälte und Hunger ignorierend, auf und über dem zunächst ebenso kalten Ofen herum. Das sind Günter Papendell mit seinem immer reichhaltiger und markanter werdenden Bariton als (Maler) Marcello, Philipp Meierhöfer mit warmem Bass als der philosophisch veranlagte Colline, Gerard Schneider mit volumigen Tenor als Rodolfo und Dániel Foki als Schaunard.
Letzterer, ein junger ungarischer, in Wien ausgebildeter Bariton ist die Überraschung des Abends. Der ist mir schon kürzlich als Husarenbursche in „Viktoria und ihr Husar“ positiv aufgefallen, ein Supertalent als Sänger und Schauspieler gleichermaßen. Nun hat er als Mitglied des Opernstudios der Komischen Oper in Berlin eine neue und offenbar animierende Heimat gefunden.
Ja, fit und jung sind sie alle in dieser neuen La Bohème, auch die, die um die 40 sind. Das ist an diesem Haus selbstverständlich. Als Rodolfo sein misslungenes Theaterstück im Ofen verfeuert, springen sie abwechselnd auf die Ofenplatte, um sich wenigstens den Po wärmen. Statt einer Mahlzeit gibt’s eher flüssiges Brot (Wein), der die gute Laune noch beflügelt. Den Hausherrn, der die Miete kassieren will, spielen sie in verteilten Rollen auch gleich mit. Urkomisch ist das.
Marcello setzt seine Mitbewohner auch gerne mal ins Bild, aber nicht als Maler, sondern als Fotograf, der alles mit einer Foto-Frühform, Daguerreotypie genannt, aufnimmt. Das „ist eine Fotografie auf einer spiegelglatt polierten Metalloberfläche. Hierzu wurden in der Regel versilberte Kupferplatten von meist 0,65 bis 0,75 mm Stärke genutzt“, weiß Wikipedia.
Die Platten können danach sofort herausgezogen und die Abbildungen sogleich betrachtet werden, was die Protagonisten auch gerne tun.
Durch eine Luke im Boden, wo eine längere Treppe mündet, betreten oder verlassen sie ihre karge Bleibe. Durch die zwängt sich, als die anderen schon zur Weihnachtsfeier eilen und nur noch Rodolfo da ist, die junge Nadja Mchantaf, Berlins neuer Liebling in ihrem Rollendebüt als Mimi.
Das Hinaufgelangen fällt ihr schwer, sie jappst nach Luft und lässt sogleich ihre Krankheit erkennen. Von Anfang an wird deutlich, wie sehr sich Nadja Mchantaf, diese mädchenhaft wirkende junge Frau im billigen weiß-grau gemustertem Kleid (Kostüme: Victoria Behr), in diese Partie vertieft hat. Sehr sauber, oft auch strahlend, führt sie ihren klaren Sopran durch die unterschiedlichsten Szenen und Gefühlswelten.
Bekanntlich braucht Mimi Licht für ihre Kerze, doch weit mehr braucht diese allein lebende Stickerin in ihrer zugigen Mansardenwohnung menschliche Wärme und einen Mann, der sie in die Arme nimmt. An diesem Abend gibt der junge Österreich-Australier Gerard Schneider den Rodolfo anstelle von Jonathan Tetelman, der diese Rolle kürzlich bei der Premiere gesungen hat.
Schneider war vermutlich von an Anfang an als Rodolfo vorgesehen, ist doch er und nicht Tetelman auf den Fotos im Programmheft zu sehen. Gesanglich und darstellerisch, dazu gut aussehend und mit prächtigem Tenor, erweist sich Schneider als rollendeckender Rodolfo.
Beide nähern sich einander schüchtern, obwohl diese Mimi sehr wohl weiß, was sie will und mehr als nur Licht für ihre Kerze. Nicht zufällig verliert sie den Schlüssel, bemerkt auch, wie sie später gesteht, dass Rodolfo ihn eigentlich schnell gefunden hat.
Doch wie glücklich lächelt sie bei seinen ersten Komplimenten. Bald schmusen sie miteinander und werden zu einem lebensechten jungen Paar, das plötzlich die Liebe entdeckt und seine Gefühle glücklich heraussingt. Nach dem „eiskalten Händchen“ (Che gelida manina!), ihrer Vorstellung als „Mimi“ und dem gegenseitigen Liebesgeständnis gibt es sofort kräftigen Beifall und im Verlauf nach jeder wichtigen Szene.
Danach geht’s ab zur turbulenten Weihnachtsfeier im Restaurant Momus. Hier ist Kosky wieder in seinem gewohnten Element. Es wimmelt von Menschen aller Art, von herumwuselnden Kleinen aus dem von Dagmar Fiebach einstudierten Kinderchor bis zu den Chorsolisten, geschult von David Cavelius. Selbst Ordensschwestern mit großen weißen Hauben genießen hier ein Stück vom Leben. Mittendrin als leuchtender Stern mit ebenso leuchtender Stimme die schöne Vera-Lotte Böcker als verführerische Musetta. Lobend erwähnt seien auch Christoph Späth als Alcindoro und Emil Lawecki als Parpignol.
Doch eines ist neu, nicht nur in dieser wimmeligen Weihnachtsszene – der ungewohnt frische, fast unromantische, jedoch komplett schlüssig wirkende Zugriff auf Puccinis Musik, den der junge Dirigent Jordan de Souza zusammen mit dem wendigen Orchester der Komischen Oper hören lässt.
Damit trifft er genau das, was Puccini, ohne Umschweife den Dialogen folgend, in die Partitur hineingeschrieben hat. Eine Schmonzette hat er nicht komponiert! Auch kein Weihespiel der Liebe, und eigentlich auch keine Oper für sehr reife Sängerinnen und Sänger.
Denn hinter den anderenorts oft sehr romantisch dargebotenen Klängen und all’ dem Ulk lauert die bittere Realität: Mimis fortschreitende Krankheit und schließlich ihr Tod, mit dem diese jungen, lebensfrohen Leute fertig werden müssen. Ganz fahl war zuvor schon Nadja Mchantafs Sopran, als sie versteckt mit anhören musste, was Rodolfo – nach ihrem Weggang – Marcello über ihre sich drastisch verschlimmernde Krankheit erzählte. Da wurde ihr klar, dass sie bald sterben muss.
In einem schwarzen schulterfreien Spitzenkleid, sicherlich spendiert von ihren letzten Gönner, kehrt diese Mimi zum Sterben zu Rodolfo und seinen Freunden zurück. Als Todkranke hat man sie vorher geschminkt, und wie sie es singt und dartut, geht es ebenso ans Herz wie das Aufbäumen gegen den Tod. Also noch ein Foto, wieder mit Marcellos Kamera. Es wird ein Bild für die Ewigkeit. Lieber Himmel, welch ein Schluss!
Bis zuletzt haben sie alles gegeben – Barrie Koskys junge Hochleistungssportler und werden nun zurecht gefeiert.
Ursula Wiegand
Nächste Aufführung am 14. Februar, weitere in den folgenden Monaten. Siehe unter www.komische-oper-berlin.de