BERLIN /Komische Oper im Hangar 4, Flughafen Tempelhof: MESSIAS; Premiere, 21.9.
Tief bewegende musiktheatralische Meditation über Leben, Spiritualität, Tod und Klang: Glory to God in the highest and peace on earth
Foto: Jan Windzus
Musik ist der Spiegel, in dem unsere Seelen sich erkennen. Krankheit ohne Ausweg, einsamer Schmerz und Trost in der Gemeinschaft, Erlösung im selbstbestimmten Tod und hoffnungstrunkene Musik. Die Geschichte hat Regisseur Damiano Michieletto gefunden, die in barocken Verzierungslust und ruhiger Elegie sich verströmende Musik stammt von Georg Friedrich Händel, der auf von Charles Jennens ausgesuchte Bibeltexte sein kontemplatives Meisterwerk geschaffen hat.
Während der Bassist seine große Arie „The Trumpet shall sound“ anstimmt, tragen an die 360 Personen – so groß ist nämlich der aus dem Profichorensemble der Komischen Oper und Mitgliedern diverser Berliner Chöre zusammengesetzte Projektchor – unzählige Erdflächen mit Gras und anderen Pflanzen in die 60 mal 20 Meter breite Bühnenfläche, über der eine gigantische metallene Lichtellipse schwebt. Es ist soweit: Die Frau (dargestellt von Anouk Elias), deren Tumor sich als dunkler Schatten immer tiefer in Gehirn und Persönlichkeit hineingefressen hat, nimmt an einem sonnigen Nachmittag Abschied und entschläft selbstbestimmt unter ärztlicher Aufsicht aus dem Leben. Auf der Bühne ist das nicht zu sehen, aber die Regie lässt Anouk Alias als schöne Seele mit einem orangefarbenen Drachen über dem Kopf schwebend jubelnd Runden laufen, bevor sie durch ein Tor hinaus in die schwarze Nacht entschwebt. Dazu singt die wunderbare Sopranistin Julia Grüter „If God be for us“ und der Chor stimmt sein letztes „Worthy ist the Lamb that was slain“ samt dem gigantischen Amenfinale an. Aus den Rohren beginnt es zu regnen, Tropfen des Schmerzes und der Freude mischen sich zu einer Apotheose des prallen Lebens. Mir kommen alleine, wenn ich an diese magische Szene denke, noch immer die Tränen.
Denn Damiano Michieletto ist im Hangar 4, der schon im letzten Jahr Schauplatz einer höchst gelungenen Produktion von Werner Henzes „Floß der Medusa“ war, ein dramaturgischer Wurf gelungen. Zu einer im überwältigenden Maß der Bühne aufgebotenen Chorbesetzung, überlagert Michielletto die drei Teile des Oratoriums über das Leben, Leiden und Sterben Jesu mit Verheißung und Geburt, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt, Erlösungsbotschaft für die gesamte Menschheit, mit dem Schicksal einer jungen Frau. Inspiriert von der tatsächlichen Geschichte der damals 29-jähirgen Amerikanerin Brittany Maynard, geht es um die unaufhaltsame Nähe des Todes durch Krankheit und den Entschluss der Frau, in Würde zu sterben. Diese Entscheidung fand aus religiös christlichen Motiven in Teilen der Gesellschaft erbitterte Gegnerschaft, was auch in der Inszenierung apostrophiert wird.
Einem Theaterwunder gleicht es jedoch, wie gut diese intime Geschichte, die Michieletto einfach (mit wenigen Worten aus dem Off) und pantomimisch ohne jedes Pathos ablaufen lässt, so gut mit der trostreichen, gänzlich jedem Gefühl von Angst abholden, in ihrem einfachen Melos wie den überschäumenden Chören überirdisch schonen Musik von Händel passt. Immerhin gilt es, über 5000 Quadratmeter Bühne zu bespielen, um die sich die gewaltigen Tribünen für 1800 Zuschauer ranken.
Der dramaturgische Trick besteht ganz einfach darin, dass der große Chor und dessen geschickt fließende Platzierung die Grenzen zwischen weiß ausgelegter Bühne und Publikum verwischen lässt. Das Gefühl der Gemeinschaft kann von den einen im universellen Mythos von Leben und Sterben, von anderen (wie mir) im großen Gebet barocker Expressivität oder aber beides verbindend als metaphysische musikalische Mediation aufgefasst werden. Es funktioniert emotional auf jeden Fall, wie der uneingeschränkt positive Zuspruch des Publikums gezeigt hat.
Daran trägt ein Gutteil des Verdienstes die enorme musikalische Qualität des Unterfangens. George Petrou dirigierte das in Sachen Alte Musik bestens erfahrene Orchester der Komischen Oper Berlin mit breiten geschmeidigen Bewegungen, rhythmisch präzise und in den Melodien fluide pastos. Den vier Solisten, die ihre Arien und zwei Duette allesamt klangschön und mit innerer Anteilnahme sangen, waren Rollen zugewiesen: Tenor Julian Behr diejenige des Ehemanns, Altistin Rachael Wilson verkörperte die Mutter, Bassist Tijl Faveyts den Vater und die lyrisch sich verströmende Sopranistin Julia Grüter die Krankenschwester. Diese Konkretisierung der Musik auf bestimmte Lebenssituationen von uns Menschen hat zu einer noch größeren Intensität und Identifikationsmöglichkeit geführt, als dies im Konzert der Fall sein kann.
Einen überwältigenden Anteil am musikalischen Erfolg hatte wiederum der Chor, der 60 Mitglieder des Opernchores und über 300 Mitwirkende aus Berliner Chören einte. Dem famosen Chorleiter David Cavelius gelang das Kunststück, die Stimmen aller so homogen zusammenzuführen, dass keiner auf die Idee kommen würde, dass es sich um ein zusammengewürfeltes Ensemble aus Berliner Konzert Chor, Vokalensemble Sakura, Kantorei Karlshorst der ev. Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde Lichtenberg, Konzertchor Friedenau, Apollo-Chor der Staatsoper Unter den Linden, Unität, Händelchor Berlin, ORSO Orchestra und Choral Society Berlin und anderen Sängern und Sängerinnen in Kooperation mit dem Chorverband Berlin handelte.
Fotos: Jan Windzus
Nicht alle Chöre wurden von allen gesungen, wie z.B. der Chor „For unto us a child is born“ oder „Let us break their bonds asunder, and cast away their yokes from us“, die dem Opernchor vorbehalten blieben.
Am Schluss wurden auf offener Bühne, Chor, Orchester und das Produktionsteam mit Damiano Michieletti, Thomas Wilhelm (Choreografie), Paolo Fantin (Bühnenbild), Klaus Bruns (Kostüme), Alessandro Carletti (Licht, geschickt die Beleuchtung von innen und außen auf ein dramaturgisches Ganzes abgestimmt) und Holger Schwark (Sounddesign) begeistert gefeiert. Halleluja! lautet da nicht nur der berühmte-wuchtige, mythisch jubelnde Chor, sondern beschreibt auch für die Reaktion des Publikums auf die Produktion insgesamt.
Fazit: Ein großer bewegender Abend, dem besonders in diesem überwältigenden Ambiente ein adäquater Erfolg so gut wie sicher ist. Vor der Aufführung und in der Pause stehen vier Baranlagen und viele bequeme Komische-Oper-Liegestühle mit Blick in die Weiten des Tempelhofer Feldes zur Verfügung. Nutzen Sie die Chance!
Dr. Ingobert Waltenberger