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BERLIN/ Komische Oper: DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL

02.05.2013 | KRITIKEN, Oper

Berlin „DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL“ Komische Oper Berlin, 1.5.2013

 Durch Mitleid wissend – arme, unsichere Männer, geschundene Frauen: Das Drama der verlorenen Seelen im SM-Puff


Foto: Monika Rittershaus

 Das Publikum war gut vorbereitet an diesem 1. Mai in Berlin, dem Tag der Wiederaufnahme dieser brutal-genialen Inszenierung des katalanischen Regisseurs Calixto Bieito. Zumindest war das Foyer während der Werkeinführung zum Brechen voll. Und da mag so manche(r) mit Bangen den Zuschauerraum betreten haben, was ihn da wohl erwarten werde an wilden Regietheaterexzessen. Ich habe jedenfalls mit weichen Knien die Komische Oper nach 2 1/4 Stunden Spielzeit wieder verlassen. Kaum je hat mich eine Aufführung so aufgewühlt.

 Keine orientalische Folklore, kein humanistischer Selim Bassa, kein Happy End. Dafür ein Laboratorium aus Angst und Abhängigkeit. Mechanischer Auslagen-Sex und eine Blut- und Gewaltapotheose, an deren Klimax Konstanze sich aus absurder Liebe zu ihrem Peiniger Bassa selbst erschießt. Ein Leben ohne die leidenschaftlich quälende Opfer-Beziehung zum Selim scheint ihr wohl unerträglich. Die Handlung spielt in einem Bordell. Wie das Serail ein Ort, wo Frauen jederzeit verfügbar sind, um welche Männer(ge)lüste auch immer zu befriedigen. Dem Regisseur gelingt auf bedrückende Weise, die Textur der gar nicht harmlosen Singspiel-Musik und des Librettos in der Personenführung buchstabengetreu sichtbar zu machen. Nicht in irgendeinem historischen Kontext, sondern im Hier und Jetzt, wo unsere Gesellschaft und der westliche Wertekanon selbst auf dem Prüfstand stehen. Was geschieht nicht alles unter dem Vorwand von Freiheit und Liebe? Die wirklichen Beziehungen zwischen Mann und Frau sind voll von dunklen Missverständnissen. Trübe Paare in gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Kontrollsucht und völliger Entfremdung, Fremdheit und Ratlosigkeit. Die gesellschaftliche Realität: In Deutschland suchen täglich geschätzte 800.000 Männer die Dienste von Prostituierten auf. Calixto Bieito: „Die Zustände und Machtverhältnisse in einem Bordell, wo Frauen wie Sklaven gehalten werden, sind quasi wie die Essenz solcher latent in den Beziehungen schwelenden Kräfteverhältnisse. Und es stellt sich die Frage nach Freiheit extrem zugespitzt.“

 Und was hat Mozarts Musik damit zu tun? Unendlich viel. Unter der bis an die Grenze des Unerträglichen gehenden Wucht der Bilder (Bühnenbild Alfons Flores) hört man die scheint es bekannten Arien, Duette, Ensembles und Chöre neu. Ein schwarz-zynisches Labyrinth der Leidenschaften, deren Protagonisten viel zu schwach und egoistisch sind, um sich von ihren eigenen Zwängen befreien zu können. Eingeschlossen in einen fest verschweißten Käfig der sie aufzehrenden Obsessionen. Während der Ouvertüre sieht man folgerichtig eine Nachtklub Zirkusnummer am Trapez. Dana Kobán vollführt in lächelnder Animation die noch harmlosen Pirouetten. Allerdings ohne Netz. Man darf sich in Alban Bergs Lulu versetzt fühlen, wo der Zirkusdirektor sein Hereinspaziert näselt. Und Schluss ist mit Lustig und dem bequemen Zurücklehnen.

 Während Belmonte (mit schönem lyrischem Tenor Adrian Strooper) von den allzu viel erduldeten Leiden singt und dabei von einer Domina ausgepeitscht wird, zieht sich Osmin aus, vergnügt sich mit einer der Damen des von ihm verwalteten Etablissements. Danach ab in die Dusche und gutgelaunt seine Strophe vom gefundenen Liebchen singend. Bewundernswert, wie der an der Komischen Oper viel beschäftigte Jens Larsen die immens schwierige Rolle des Osmin bei all den akrobatischen Aktionen, die er alleine in den ersten 15 Minuten vollführen muss, zu klingendem Leben erweckt. Dass dabei eine tiefe Note nicht sonor gelingt, ist völlig nebensächlich.

Jeder kennt die Geschichte der Entführung, daher mögen pars pro toto zwei Szenen dienen, in denen dieser mit den Augen Bieitos erkundete Mozartsche Kosmos besonders unter die Haut geht.

 Belmonte hat sich auf den Rat Pedrillos hin als Frau verkleidet Zugang zum Serail verschafft. Das was er sieht, verunsichert ihn zutiefst, und jetzt auf einmal steht er Konstanze gegenüber. Besser gesagt: Konstanze ist in einem Käfig gefangen, die Schminke rinnt an ihren Augen herunter. “Wenn der Freude Tränen fließen“ Der Blick auf die beiden macht zutiefst traurig. Allen, auch den beiden ist sofort klar, das funktioniert niemals mehr. Leer sind die Gesten, keine Zärtlichkeit stellt sich ein. So wie Orest in der Erkennungsszene sich vor Elektra ekelt, die im Schmutz liegt bei den Hunden, so muss es dem verzogenen Muttersöhnchen Belmonte gehen, der die vollkommen verlorene Konstanze als passiv ergebenes SM Lustobjekt wieder trifft. Alle romantischen Projektionen sind erloschen, es bleibt der große Irrtum einer erträumten Liebe, die die Mühlsteine des Lebens rasch zu Staub zerrieben haben. Claudia Boyle liefert als Konstanze die reifste sängerische und schauspielerische Leistung des Abends. Wie sie Koloraturen handlungsdramatisch auflädt, welche Rembrandtschen Farben sie in das Porträt dieser unglücklichen, zwischen Schlägen und Küssen weich gekochten Frau legt, das dringt (um es mit Fidelio zu sagen) in die Tiefe des Herzens.

 Der von jesuitischer Erziehung geprägter spanische Regisseur versteht Theater als moralische Anstalt und sprengt gnadenlos die gängige ästhetische Landvermessung. So während der Marternarie, als Osmin eine Prostituierte langsam mit einem Messer zerlegt. Grenzwertig fürwahr auch nach den Maßstäben des heutigen Regietheaters. Aber so wie alle Szenen dieser Inszenierung weder peinlich noch plump noch dramatisch beliebig.

 Musikalisch ist die Aufführung wie aus einem Guss. Dirigentin Kristiina Poska serviert ein knackig flottes Klangbild. Präzise kommen die Einsätze. Dynamisch differenziert wird ein Spannungsbogen über die Partitur gespannt. Selbst die gesprochenen Passagen scheinen in den musikalischen Fluss mit einbezogen. Vom Ensemble, das den Felsenstein‘schen Anspruch von Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit in der musikalischen wie darstellerischen Umsetzung in jeder Sekunde erfahrbar macht, möchte ich noch besonders die Blonde der Julia Giebel, den Pedrillo des Tansek Akzeybek hervorheben. Ein besonderes Lob gebührt dem schauspielerisch großartigen Bassa Selim des Guntbert Warns.

Ein intensiver Theaterabend zum Nachdenken. Eine überlegene Ensembleleistung der am Puls der Zeit schaffenden Komischen Oper Berlin.

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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