Anne Sofie von Otter und Tanzensemble. Copyright: Monika Rittershaus
Berlin / Komische Oper: „ CANDIDE“ von Leonard Bernstein, Lenny auf Abwegen, Premiere, 24.11.2018
Ein Genie, wie Leonard Bernstein es war, kann in diversen Stilen komponieren. Würde jedoch sein „Candide“ im Radio erklingen, käme wohl kaum jemand auf den Gedanken, dass diese voll europäisierte Musik mit deutlichen Anleihen bei Johann Sebastian Bach über Richard Strauss, Gustav Mahler und Franz Lehár bis zu Kurt Weill vom Schöpfer der West Side Story sein könnte.
Womöglich lässt sich dieser Ausflug in abendländische Musiktraditionen mit Bernsteins zahlreichen Besuchen in Wien erklären, wo er von 1966 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1990 als Dirigent der Wiener Philharmoniker oft gefeiert wurde. Einen Brief an seine Eltern hat er sogar mal mit: „Euer Wiener Schnitzel. Lenny“ unterzeichnet.
„Auf den Stoff für diese Operette kam Bernstein jedoch schon in Amerika, angeregt durch die US-Autorin Lillian Hellman, die ein Stück von Jean Anouilh – den Prozess gegen Jean d’Arc – übersetzt und, von Bernstein musikalisch illustriert, erfolgreich zur Aufführung gebracht hatte. Sie machte Bernstein auch den „Candide“ von Voltaire schmackhaft.
Bernstein war von dieser Idee sehr angetan und wählte tatsächlich Voltaires Novelle von 1759 „Candide ou L’Optimisme“ als Vorlage. Doch sein Musical wurde ein Flop. Lag es an der Musik oder doch eher am Libretto? Voltaires langatmige Satire, gedacht als Kritik an dem deutschen Philosophen Leibniz, war sicherlich für Amerikaner reichlich unverständlich und strotzt überdies von üblen Kolonialherrenklischees.
Sonderbar, dass Bernstein, dem Juden, das nicht ungut aufgefallen ist. Jedenfalls verschwand das Werk nach der Premiere im Jahr 1956 sang – und klanglos in der Versenkung, auch Wiederbelebungsversuche schlugen fehl. Weithin galt „Candide“ als uninszenierbar.
Ein „Geht nicht“ gibt es aber nicht für den erklärten Bernstein-Fan Barrie Kosky. Zum 100. Geburtstag dieses Musikgenies scheut er nun als Regisseur und Intendant weder Mühe noch Kosten, um dieses Musical aus der Versenkung zu holen. Dass das nicht einfach sein würde, wusste er. „Candide“ sei alles, Oper, Musical, Operette, eine schwierige Mixtur, widerspiegelnd den Charakter von Leonard Bernstein, meint Kosky.
Schwierig ist vor allem der nicht mehr zeitgemäße und allzu redselige Text. Auch die neue Version, angefertigt 1999 und mehr nach Voltaires Original, ändert daran nichts. Candide’s imaginäre Weltreise, die früher gerade noch kinderbuchtauglich gewesen wäre, ist durch die Auffrischung keineswegs akzeptabler, plausibler oder unterhaltsamer geworden, zumal heutzutage ein Flugticket genügt, um sich mit eigenen Augen ein Bild vor Ort zu machen.
Insofern sind Voltaires hoch gelobter Sarkasmus und die von ihm persiflierten Ereignisse von vorgestern, und so sorgt auch dieses neue Libretto nur dafür, die Candide’s Erfahrungen „in der besten aller möglichen Welten“ kräftig in die Länge zu ziehen. Nur eine geölte Show-Maschinerie, mit der die Komische Oper unter Koskys Leitung seit Jahren punktet, hält die Aufmerksamkeit einigermaßen wach.
Doch vorab – wie sieht er eigentlich aus, dieser Candide? Beinahe wie der jetzige Lohengrin an der Staatsoper Wien. Wie der trägt er, womöglich in Anspielung auf Bernsteins häufige Wien-Besuche, zunächst eine Seppelhose (Lederhose).
Als ein vom Lehrer Dr. Pangloss zum Daueroptimisten getrimmter Einfaltspinsel zieht er fast wie der „reine Tor“ aus Wagners Parsifal durch ferne Lande. Immerhin in militärischer Tarnkleidung und als nicht monogamer Liebhaber auf der Suche nach seiner von den bösen Bulgaren (!) verschleppten Kunigunde. Das alles in der Annahme, sie würde ihm treu bleiben. Ein Irrtum, wie sich später herausstellt.
Candides Tour führt also zunächst nach Bulgarien, dann nach Holland sowie nach Paris-Wien-Lissabon und anschließend nach Spanien. Alles dargeboten mit dem sattsam bekannten Lokalkolorit. Im zweiten Teil ist Candide auch mal als Passagier in einem Flüchtlingsboot unterwegs und gelangt gemäß Voltaire in solch schlimme Städte und Länder wie Montevideo und Paraguay, wo er sogar den schwulen Ordensboss, einen ehemaligen Schulkameraden, ersticht, nachdem der ihn sexuell bedrängt hatte und seine Ablehnung stark betrafen wollte.
Danach landet er unversehens im freundlichen, Gold strotzenden Eldorado mit den einzigartigen roten Eldorado-Schafen, segelt mit Schmuck beladen weiter nach Surinam und rettet dort gerade noch sein Leben. Über Marseille und Venedig (mit hübschen Clownstänzen) geht’s letztendlich in die heimatlichen Berge. Hier wollen die Weltreisenden wider Willen, noch immer einen Globus befingernd, endlich zur Ruhe kommen, sich ehrlich um ein einfaches Leben bemühen, wollen „Mut pflanzen“ und einen Garten anlegen. Wie rührselig und erbaulich.-
Bis dahin vergeht viel, viel Zeit, und nur die immense Bühnen-Show verhindert ein Nickerchen. Mit bewährten Mitteln versucht Koskys Stamm-Crew, diese „große amerikanische Operette des 20. Jahrhunderts“ aufzupeppen, um sie dem heutigen Publikum nahe zu bringen.
Wie gewohnt wirbeln die Tänzerinnen und Tänzer, von Klaus Bruns oft farbenprächtig kostümiert, über die von Rebecca Ringst gestaltete Bühne. Manchmal müssen sie auch als blutrünstige exotische Horden herhalten (Choreographie: Otto Pichler). Passend dazu sorgt der junge Dirigent Jordan de Souza engagiert für den nötigen musikalischen Drive.
Allan Clayton (Candide) und Tänzer. Copyright: Monika Rittershaus
Ebenso legen sich die großartigen Sängerinnen und Sänger ins Zeug, um dieses vergessene Musical so zu sagen durch Mund zu Mund Beatmung zu reanimieren. Der junge Tenor Allan Clayton verkörpert mit Schöngesang, Ausdruck und Schauspielbegabung diesen trotz aller Beinahe-Tode zuversichtlich bleibenden Sonderling.
Als Kunigunde brilliert stimmlich und darstellerisch Nicole Chevalier, die sich vom Schulkind aus dem Dorfadel zunächst in ein lüsternes Flittchen und dann offensichtlich in eine kühle Business-Lady im schwarzen Hosenanzug verwandelt.
Fabelhaft Anne Sofie von Otter als alte, in Lumpen gekleidete, aber quicklebendige Frau mit strahlendem Mezzo. Mit Galgenhumor zählt sie ihre diversen Nahost-Stationen als Sex-Sklavin auf. Diese beiden Könnerinnen geben auch ein Lustspielpaar hoch zu Ross, das sogleich Beifall erhält.
In weiteren Rollen singen und agieren erfolgreich: Franz Hawlata als Dr. Pangloss/Voltaire, Dominik Köninger als Maximilian / Großinquisitor / Pater Kommandant / Louis XIV, Maria Fiselier als Paquette / Königin von Eldorado / Pfarrersfrau, Emil Ławecki als Cacambo / Heinrich XIII, Tom Erik Lie als Martina / Elisabeth I / Pfarrer / Sklave / Bulgarischer König sowie Adrian Strooper als Gouverneur und König von Eldorado. Munter mitmischen auch die Chöre der Komischen Oper Berlin, einstudiert von David Cavelius.
Zuletzt heftiger Beifall für alle Beteiligten, die sich so intensiv für Bernsteins vergessenen „Candide“ in die Bresche geworfen haben.
Ursula Wiegand
Weitere Termine: 01., 12., 21, und 31. Dezember, 0., und 25. Januar, 3. Februar, 27. März, 03. April und 30. Juni 2019.