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BERLIN Gorki Theater: CARMEN nach George Bizet und Henri Meilhac/Ludovic Halévy; Best Carmen in town: Carmen ist tot, es lebe Carmencita!

BERLIN Gorki Theater CARMEN nach George Bizet und Henri Meilhac/Ludovic Halévy; 26.2.2025

Best Carmen in town: Carmen ist tot, es lebe Carmencita!

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Bühnenfotos: Ute Langkafel

Am 6. Juni dieses Jahres jährt sich zum 150. Mal der Todestag von George Bizet. Dessen in allen Opernhäusern, Arenen und Steinbrüchen dieser Welt aufgeführte Oper „Carmen“ lebt von den mitreißenden Melodien, aber auch von einem Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach einer Novelle von Prosper Merimée, in der eine Tabakfabriksarbeiterin als Femme fatale die Macho-Männerwelt von Sevilla gehörig auf Trab hält. Nicht zuletzt muss sie (nach dem Willen der Erfinder) sterben, um die patriarchale Ordnung der bürgerlichen Fassaden und standesgemäßen Verbindungsoptionen aufrechterhalten zu können.

Regisseur Christian Weise hat sich im legendären Berliner Gorki Theater an dieses Stück herangewagt. Er tut dies nicht, wie einst das Wiener Burgtheater, das Victorien Sardous „Tosca“ ohne Musik rein gesprochen auf die Bühne brachte und trotz Kirsten Denen in der Titelpartie krachend daran gescheitert ist, sondern als Kammer-Opera comique, fein durchdacht, witzig, sinnlich aufregend. Er will den von Bizet „musikalisch verwobenen Genres, Referenzen und kulturellen Aneignungen nachspüren“. Am Ende soll es nicht todtraurig sein, dafür sorgt schon der ritualisiert inszenierte Song „Auf in den Kampf…“ , bei dem das Publikum schön brav mitsingen darf.

Die Frage, um die es geht, lautet: Wer will denn noch eine Abziehbild-Carmen des 19. Jahrhunderts sein/sehen? Mit Riesen-Creolen, fransenbetucht, hüftschwingend und schwarzen Löckchen, optisch in Blei gegossen, schablonenhaft, museal? Riah Knight, Dramaturgin, weiß dazu: „Die Roma-Gemeinschaft hat eine toxische Beziehung zu Carmen: Als eine unserer wenigen Ikonen, die die Jahrhunderte überdauert haben, erfüllt sie jedes Stereotyp, das jemals über uns Roma kursierte. Sie ist gewalttätig, rüpelhaft, ungezähmt, heißblütig, leidenschaftlich, diebisch, tanzt und singt sich als schwarzhaarige Femme fatale bar jeder Moral in die Betten der Männer. Und doch wird sie geliebt. Sie ist eine Widerstandsfigur, ein Symbol der Freiheit gegen die Konformität, eine Verweigerung der Opferrolle. Und letztlich das Porträt einer Frau, die ihrer Zeit voraus war.“

Natürlich werden in Carmen Themen verhandelt, die so zeitgemäß sind, dass jede und jeder sich darin wiederfinden kann. Als da sind die Endlichkeit von Liebe und Begehren, sexuelle Dominanz in einer Paarbeziehung, erotische Sehnsüchte und Fantasien, die spießigen Vorstellungen von Mama, was die Partnerwahl angeht, und natürlich der allgegenwärtige Tod. Dieser wird der schönen Carmen nicht nur in den Karten prophezeit, sondern er trifft diese Heldin ambivalenter Unabhängigkeit allabendlich mit dem kleinen Messer des Sergeanten José. Davon hat sie nun endlich die Schnauze voll.

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Bühnenfotos: Ute Langkafel

Diese Carmen will – wer kann es ihr verdenken – 150 Jahre nach der Uraufführung am 3. März 1875 an der Opéra-Comique, Paris aus ihrer gewohnten Rolle ausbrechen, aus dem „narrativen Korsett ihrer Väter“, um beeindruckender und quick lebendiger denn je ein neues Leben zu starten.

Denn die Aufführung im Gorki Theater ist nichts weniger als spektakulär, darstellerisch und musikalisch, aber auch, was den Bühnenzauber in tollen grafischen Projektionen (Julia Oschatz) und bunt fantastischen Kostüme (Lane Schäfer) anlangt. Ich muss lange zurückgehen bis zu den unvergesslichen Abenden Ariane Mnouchkines im Théâtre du Soleil in der Pariser Cartoucherie („Les naufragés du fol espoir“), um einen vergleichbar intensiven Eindruck eines Theaterabends heraufzubeschwören.

Denn Christian Weise zertrümmert Carmen nicht planlos oder zerfleddert sie in pseudo-regietheaterlichem Firlefanz. Im Gegenteil, er dekonstruiert mit burleskem Esprit und wachem Verstand, um der Oper neue Nuancen und Berliner Großstadtflair Flair abzugewinnen. Da nutzt er geschickt ein camp-genderfluides, popartiges „Slapstick-Vokabular“, dazu eine expressive, fuchtelgestige, an Stummfilme erinnernde Körpersprache und eine ebenso drastische Mimik.

Weise legt zudem viel Wert auf eine gehaltvolle musikalische Umsetzung, der atmosphärisch nichts abgeht und die wundersam großartig gelungen ist. Er lässt uns gnadenlose, Lachmuskel wie Tränendrüsen reizende Blicke auf Carmen und ihre Freier werfen, inszeniert das Subversive als Teilmenge eines skurrilen Allzu-Menschlichen. Das Publikum erlebt und erfreut sich an prallem Schauspiel mit Musik, unterhaltsam, anrührend, bewegend, ungemein poetisch und tragikomisch zugleich. Mit einem genialen Ensemble, das höchste Schauspiel- und Sangeskunst verkörpert und vom Berliner Publikum frenetisch gefeiert wird.

Allen voran der schwedische Schauspieler, Sänger und Romani-Aktivist Lindy Larsson als schlaksige Carmen mit Charakter und anglo-reflexivem Eigensinn und nicht minder beeindruckend die junge Via Jikeli als sexuell erwachendes Muttersöhnchen bzw. als erbärmlich besitzergreifender, gelbgewandet-weinerlicher Möchtegernmacho Don José. Ein Hit, wie Larsson mit wandelbarem Bariton die berühmten Arien in den Raum schmettert und Jikeli mit klarem Sopran die Blumenarie zart aufblühen lässt. Was diese beiden Bühnen-Urgewalten den ganzen, auf zwei pausenlose Stunden kondensierten Abend an Verführung und Hitzigkeit, Action und überkandidelten Volten, Freiheit wie Konventionen persiflierend, voller stimmlicher Emphase (die Ansage vor der Vorstellung, dass das ganze Ensemble irgendwie angeschlagen wäre, davon habe ich nichts bemerkt) entfesseln, ist beispiellos. Dazu kommen in mitreißender Spiellaune Till Wonka (Escamillo, Zigarettenarbeiterin, Schmuggler), Riah Knight (blondgezopft als Micaëla, Schmuggler), Catherine Stoyan (Lilas Pastia, Zigarettenarbeiterin, Mércèdes) und Marc Benner (Zuniga, Schmuggler).

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Bühnenfotos: Ute Langkafel

Die für ein kleines Instrumentalensemble arrangierte Musik wird außer der von Tonband kommenden Ouvertüre live gespielt. Ein Riesen Bravo an die mephistophelisch-priesterlich auftretenden Jens Dohle (Schlagzeug, Vibraphon, Klavier), Steffen Illner (Kontrabass, Cello, Flöte) und Dejan Jovanovic (Akkordeon), die mit ihrem Können ein Stück pariserisch imaginiertes Sevilla an die Spree holen.

Zu Recht ist dieser Abend in Berlin bereits Kult.

Nächste Termine: 8. und 9.4. (ausverkauft: Eventuelle Restkarten sind an der Abendkasse erhältlich).

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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