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BERLIN/ Deutsches Theater: UNSCHULD von Dea Loher

25.12.2011 | KRITIKEN, Theater

Berlin, Deutsches Theater: „UNSCHULD“, 23.12.2011

Einen Tage vor Heiligabend ins Theater zu gehen – ist das nicht eine sonderbare Idee? Richtig, es gäbe noch einiges zu tun, doch man/frau muss sich mal ausklinken.

Vor vielen Jahren habe ich am 23.12. den damals schon hochbetagten Bernhard Minetti in Thomas Bernhards „Einfach kompliziert“ gesehen. Was haben wir geschmunzelt, als er sich gegen eine Maus verbarrikadierte. Dabei war dieser alte, schrullige und einsame Schauspieler, den Minetti spielte, im Grunde eine tragische Figur.

Bei Dea Loher (geb. 1964), bereits mit mehreren Dramatikerpreisen geehrt, dominiert die Tragik auf den ersten Blick. Harter Beat (Musik: Bert Wrede) lehrt uns gleich das Fürchten. Zwar kippt das Stück auch mal ins Tragisch-Komische, doch unschuldig ist hier niemand. Alle sind mehr oder weniger schuldig.  

Es geht außerdem um Versagen, Verzweiflung, Missachtung, Einsamkeit, Mord und Selbstmord. Sie alle finden keine Liebe und kein Verständnis. Die hier auftreten, sind irgendwie aus der Welt gefallen und wohnen vielleicht doch nebenan. Im Programmheft sind Abschiedsbriefe von Menschen abgedruckt, die den Freitod wählten. – Dea Loher reiht die diversen Schicksale locker aneinander, verschränkt sie schließlich. Alles kleidet sie in eine poetische Sprache, kombiniert mit Großstadt-Slang und Großstadt-Tristesse.

Regisseur Michael Thalheimer, der zum ersten Mal ein Gegenwartsstück und das einer Frau inszeniert, kennt ebenfalls kein Pardon. Er lässt die die Schauspieler auf einer abschüssigen, kegelförmigen Bühne (Olaf Altmann) agieren. Sie schliddern hinunter und stehen nun direkt vor uns. Sie können nichts verbergen, sind auch in Kleidern nackt.

Hauptakteure sind die beiden illegalen afrikanischen Zuwanderer Elisio und Fadoul, großartig gespielt von Andreas Döhler und Peter Moltzen. Heimlich wohnen sie in einem 13-stöckigen, abrissreifen Hochhaus, aus dem sich immer wieder Verzweifelte in die Tiefe stürzen. Im Hafen herumgehend beobachten sie eine junge Frau, die sich auszieht und ins Wasser geht. Sie kommt mit dem Leben nicht mehr klar.

Elisio will sie retten, doch was dann? Wenn sie die geborgene Frau irgendwo hinbringen, werden sie gefasst und abgeschoben. Sie zögern zu lange, und sie ertrinkt. Elisio kauft am nächsten Tag eine Zeitung, sieht darin das Bild der Ertrunkenen und steckt es in die Jackentasche. Ihn plagt das schlechte Gewissen, er kann fortan kaum noch schlafen.

Fadoul lernt an der Bushaltestelle die blinde Stripperin namens Absolut (Katrin Wichmann) kennen, die als Nachtclubtänzerin arbeitet und gerne die Blicke der Männer auf ihrem Körper spürt. Sie hat im Bus ein Buch und ihren Schirm vergessen. Hat Fadoul beides, wie sie vermutet, in seiner Plastiktüte?

Nein, in dieser gefundenen Tüte steckt eine große Summe Geld, ein Geschenk Gottes, wie Fadoul überzeugt ist. „Gott in der Tüte,“ so sagt er, fühlt sich bald selbst als Gott. Die Blinde, inzwischen seine Geliebte, will er mit diesem Geld sehend machen. Doch die teure Operation misslingt. Die Frau wendet sich von ihm ab, sie will weiter als Blinde im Nachtclub tanzen.

 

Eine Frau Habersatt (Gabriele Heinz) tritt auf. Die ältere Dame gibt sich als Mutter eines Amokläufers aus und sucht die Eltern einer Getöteten auf. Sie insistiert, man solle ihr verzeihen, und während sich die schmale junge Frau (Kathleen Morgeneyer), die getötete Tochter vor sich sehend, ständig übergibt, bietet der schwächliche Ehemann (Michael Gerber) der zudringlichen Besucherin, weil sie so einsam ist, sogar noch ein Zimmer an.  Kathleen Morgeneyer spielt später noch eine abgebrühte Ärztin, die in der Kneipe einen hübschen jungen Mann kennen gelernt hat. Sie hat ihn in ihre Hochhauswohnung mitgenommen. Während sie ihm in der Küche einen Drink mixt, stürzt er sich aus dem offenen Fenster. Gezeigt wird das nicht, sie berichtet es nur.

Diese alte Frau hat aber, wie sich in einer anderen Szene herausstellt, gar keine Kinder, sie hat niemanden. Ihre Schwangerschaft endete mit einer Totgeburt, nun versucht sie, sich Elisio als Mutter anzudienen. 

Die schöne, zarte Frau, die anfangs ins Wasser gegangen ist, heißt Rosa (Olivia Gräser). Ihr Mann Franz (Sven Lehmann) arbeitet in einem Bestattungsunternehmen. Das ist seine Welt. Er wäscht die Toten und bringt nach der Einäscherung die Urnen mit nach Haus. Seine ganze Zuneigung gilt den Verstorbenen. Seine hübsche Frau, die sich nach ihm sehnt und ein Kind von ihm haben möchte, berührt er nicht.

Und dazu schimpft ständig die Diabetes-kranke Mutter (Barbara Schnitzler),  eine Ex-Kommunistin, die sich als Pflegefall in diese Einzimmer-Wohnung hineingedrängt hat. Sie träumt davon, eine Tankstelle mit einer brennenden Zigarette in die Luft zu jagen und sich selbst gleich mit.

Nun kippt alles ins Surreale: Die beiden Afrikaner begegnen diesen Dreien. Rosa, als Double der Ertrunkenen, betritt in dem gleichen weißen Kleid den Raum. (Kostüme: Michaela Barth).

Elisio traut seinen Augen nicht, zieht das Bild der Ertrunkenen aus der Jackentasche. Er ist  fassungslos. Dea Loher löst das Rätsel nicht auf, lässt auch uns grübeln.  

Das Buch, das die Blinde anfangs verloren hatte, trägt den Titel: „Die Unzuverlässigkeit der Welt“. Es ist das einzige Werk, das die frustrierte Philosophin Ella nicht verbrannt hat. Der hoch gewachsene Ingo Hülsmann verkörpert diese Frau, der jede Illusion abhanden gekommen ist.

Um sie kümmert sich ihr Mann Helmut, ein Goldschmied, schon lange nicht mehr. Er sitzt nur grinsend da und spricht kein Wort (Jürgen Huth). Als einzige schreitet Ella zur Tat und bringt ihren Mann beim erzwungenen Liebesakt um.

Zuletzt stehen die Darsteller erneut vor uns und sollen sich was wünschen. Nur einer äußert sich positiv und bringt eine Winzigkeit Hoffnung ins Spiel: Elisio. Er will Rettungsschwimmer werden. – Starker Beifall.    Ursula Wiegand

 

 

 

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