Ulrich Mathes. Foto: Arno Declair
Berlin/ Deutsches Theater: „Der Menschenfeind“ von Molière mit Ulrich Matthes, Premiere 29.03.2019
Ein Theaterstück in Reimen, verfasst von Molière vor rund 350 Jahren – ist das noch erträglich und aktuell? Aber wie! Das beweist erneut das Deutsche Theater Berlin mit acht großartigen Schauspielerinnen und Schauspielern.
Vor rund 10 Jahren hatte Andreas Kriegenburg das Stück dort inszeniert, jetzt hat Anne Lenk mit leichterer Hand Regie geführt und genau die Waage gehalten zwischen Komödie und Tragödie. Sie braucht dazu auch kein Drum und Dran, keine fein möblierte höfische Umgebung, in der das Geschehen eigentlich angesiedelt ist.
Es genügt ein aus dunklen Schnüren gebildeter „Vorhang“ im Hintergrund, durch den sich alle schlängeln und zwängen (Bühne: Florian Lösche). Auf der ansonsten leeren Bühne und ganz ohne Videos (!) entwickelt sich nun – mitunter von Songs begleitet (Musik: Camill Jammal) – ein Kammerspiel der Extraklasse, auf das sich das Publikum spürbar voll konzentriert.
Den adligen Menschenfeind Alceste verkörpert diesmal Ulrich Matthes. Wer denn sonst?! Er spricht und spielt Molières Verse – vor rd. 10 Jahren von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens neu ins Deutsche übersetzt – so locker und gleichzeitig so eindringlich, dass das Gereimte ganz selbstverständlich wirkt. Und alle anderen tun es ihm bewundernswert nach.
Vermutlich bringen nun viele im Publikum ein gewisses Verständnis für diesen Wahrheitsfanatiker auf, der sich über alle damals am Hofe üblichen Höflichkeitsfloskeln und Benimmregeln hinwegsetzt. Aber wer wagt es heute, sein/ihr Missfallen nicht nur per facebook, sondern vis-à-vis so unverblümt auszudrücken? Was heutzutage im Netz oft üblich ist, klatscht Alceste den anderen rücksichtslos um die Ohren. So würde sich Kanzlerin Angela Merkel, die ebenfalls zur Premiere gekommen ist, nie ausdrücken.
Wie hart der durchaus geachtete Alceste urteilen kann, bekommt der junge Hobby-Dichter Oronte sogleich zu spüren, der ihm sein Sonette zwecks Beurteilung vortragen möchte. Oronte nähert sich ihm durchaus kumpelhaft, macht auch gleich ein Selfie zusammen mit Alceste. Eine geschliffene Diskussion entspannt sich.
Großartig das spitzbübische Minenspiel von Timo Weisschnur in dieser Rolle. Dann geht er in die Knie, streckt sehnsüchtig die Arme aus und beginnt sein Gedicht. Eine urkomische Szene, die das Publikum lachen und kichern lässt. Das Sonett namens „Hoffnung“ gilt natürlich der schönen jungen Witwe Célimène, doch nicht nur deshalb lässt ihn Alceste gnadenlos durchfallen.
Nein, dieser überkritische Adlige, der sich zum Menschenhasser entwickelt hat, ist wirklich kein sympathischer Herr. Sein Hochmut und seine Selbstgewissheit, von Ulrich Matthes auch lebhaft spielend auf den Punkt gebracht, sind fast unerträglich.
Dennoch schafft es dieser schon leicht Ergraute im absichtlich unschicken grauen Wollmantel (Kostüme: Sibylle Wallum), auch Verständnis und Mitleid zu erregen in seiner „amour fou“ zu Célimène. Wie er von diesen Gefühlen beherrscht wird – auch das äußert er offen, aber nicht ohne Selbstmitleid.
Ulrich Mathes, Franziska Machens. Foto: Arno Declair
Erstaunlicherweise hat er sogar bei dieser schönen jungen Frau, die nach dem Ende der üblichen Trauerzeit nun übermütig wieder (oder erstmalig!) das Leben genießt und von vielen Männern umschwärmt wird, durchaus echte Chancen. Franziska Machens, sexy im knappen schwarzen Outfit, spielt diese Rolle total überzeugend.
Umwerfend komisch ihre fast ständig präsenten Verehrer Jeremy Mockridge als Acaste und Elias Arens als Clitandre, die Alcestes Eifersucht und Zorn erregen. Während Célimènes Abwesenheit absolvieren die beiden Fitness-Übungen mit den Schnüren, die vom Publikum beklatscht werden. Anne Lenk hat sich da wirklich was Hübsches einfallen lassen.
Und das auch zu Franziska Machens. Die zeichnet die Célimène als Selbstbewusste zwischen Liebe und schrankenloser Lebensfreude. Als eine, die sich laut lachend amüsieren kann, wenn sie zusammen mit ihren Galanen die abwesenden Verehrer verspottet. Freizügig überspringt auch sie die Hofsitten und ist diesbezüglich Alceste durchaus ähnlich. Sie liebt ihn wirklich und beteuert es immer wieder, wenn er schlecht gelaunt daran zweifelt.
Dieser Andersartige erweckt auch bei anderen Damen mehr als nur Sympathien. So bei der hübschen jungen Éliante, entzückend gespielt von Lisa Hrdina. Die fasst Alceste, von Célimène enttäuscht, sogar kurzzeitig als Ersatz-Geliebte, sie heftig küssend, ins Auge. Auch die ältliche, sich streng gebende, aber geile Arsinoé, überzeugend dargeboten von Judith Hofmann, hat mehr als ein Auge auf ihn geworfen.
Sie zeigt ihm auch (und vermutlich nicht nur) die Spottbriefe, die Célimène über ihre Lover geschrieben hat, aber von ihr offenbar abgefangen wurden. Wie sich beide Frauen ihren so völlig verschiedenen Lebenswandel vorwerfen, ist ebenfalls sehens- und hörenswert.
In all’ diesem Durcheinander bleibt einer die ganze Zeit treu an Alcestes Seite: sein Freund Philinte, der sehr glaubhafte Manuel Harder. Der erträgt auch all’ die Beleidigungen, die Alceste selbst ihm zuteil werden lässt. Vergeblich versucht er immer wieder, dem sturen Alceste mehr gesellschaftliche Geschmeidigkeit schmackhaft zu machen. Ganz ohne Erfolg. Doch einen Erfolg kann Philinte, der heimlich Éliante liebt, letztlich verbuchen: er bekommt sie tatsächlich.
Davor aber der große Showdown, als Arsinoé mit den Spottbriefen anrückt und sie den jeweiligen Adressaten in die Hand drückt, die sie nun laut vorlesen müssen. Beschämt sind sie, und Oronte wird wütend. Unverblümt sagt er Célimène seine Meinung. Ihn wird sie nicht mehr becircen können.
Sogar über Alceste hat sich Célimène ironisch geäußert. Der ist nun verstört und tief beleidigt. Sie entschuldigt sich, sie liebt ihn ja und er sie noch immer. Molière, mit einer 21 Jahre jüngeren Frau verheiratet, hatte da wohl seine Erfahrungen.
Beide versöhnen sich, doch gibt es kein Happy End. Seiner Forderung, gemeinsam mit ihm weg vom Hof in die Einsamkeit (sein Landgut) zu ziehen, lehnt die Lebenslustige jedoch ab. „Ich bin doch noch so jung“, sagt sie und schaut den Geliebten mit großen traurigen Augen an. Der springt auf, stürzt auf sie zu und küsst der Weggehenden verzweifelt den Rücken.
Womöglich hegt er plötzlich Selbstmordgedanken, sagt, er wolle die Welt verlassen. Sein Freund Philinte mit der nun glücklich erhaschten Éliante stürzen ihm hinterher.
Der Vorhang fällt und langer, lauter Applaus mit Gekiekse brandet nach diesem Super-Abend durch den ausverkauften Saal. Hingehen und hoffentlich noch eine Karte kriegen!
Weitere Termine: 04., 16. und 20. April.
Ursula Wiegand