Berlin/ Deutsche Oper, Premiere „VASCO DA GAMA“ von Giacomo Meyerbeer, getragen von Sophie Koch und Markus Brück. 04.10.2015
Roberto Alagna als gepeinigter Vasco da Gama. Foto: Bettina Stöss
Die Deutsche Oper Berlin startet ein Meyerbeer-Revival und bietet einem einst Hochberühmten, inzwischen weithin Vergessenen eine erneute Chance. Übrigens einem Berliner, der seinerzeit an der Pariser Oper Triumphe feierte.
In einem im Programmheft abgedruckten Gebet fleht er Gott um den Erfolg für Vasco da Gama an und fügt hinzu: „Mache dass Vasco sich wie Robert und Hugenotten schnell auf dem Repertoire aller Theater der Welt verbreite, und sich darauf erhalte, so lange wie Robert und die Hugenotten sich auf dem Repertoire erhalten haben und noch erhalten werden.“
Ein frommer Wunsch, der keine Erfüllung fand, zumal Meyerbeer vor der Uraufführung dieser seiner letzten Oper verstarb. Die aus dem hinterlassenen, äußerst umfangreichen Material gebastelte Uraufführung unter dem völlig falschen Titel „L’AFRICAINE“ (Die Afrikanerin) am 28. April 1865 war quasi das Ende der Grand Opéra. Richard Wagner hatte sich bald nach der umjubelten „Rienzi“-Uraufführung am 20. Oktober 1842 in Dresden von diesem konservativen Kompositionsstil gelöst. Sein Werk „Tristan und Isolde“, uraufgeführt nur gut einen Monat nach „L’AFRICAINE“, geht bereits den Weg in die damalige Moderne.
Sophie Koch, Roberto Alagna – ein kurzer Liebestraum. Foto: Bettina Stoess
Doch genau so, wie die Deutsche Oper Wagners „Rienzi“ im Januar 2010 in der Inszenierung von Philipp Stölzl erfolgreich wiederbelebte, versucht sie es jetzt mit „Vasco da Gama“, dem Stück für den Seehelden, der das Kap der Guten Hoffnung umsegelte und bis nach Indien gelangte. Benutzt wird die revidierte Fassung nach Herausgabe der historisch-kritischen Edition von Jürgen Schläder, die am 2. Februar 2013 in Chemnitz Premiere hatte und überregional hoch gelobt wurde.
Bei Meyerbeer ist Vasco ein sympathischer junger Mann mit weitgesteckten Zielen, ein Ruhmsüchtiger, der alle Widerstände überwindet, aber auch ein intensiv Liebender. Die Ouvertüre, vom Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Enrique Mazzola greift melodiös eher Letzteres auf.
Nino Machaidze (Ines) und Roberto Alagna (Vasco da Gama). Foto: Bettina Stöss
Sehr gelungen ist die Gestaltung der Bühne durch Jens Kilian. Zunächst sehen wir kleine Papiersegelboote, wie sie Väter für ihre Kinder falten, vor einer aufgehängten schwarz-weißen Weltkarte. Später bilden hohe Segel den eindrucksvollen Hintergrund des Ratssaals und anderer Spielorte. In einem größeren Boot sitzt jetzt erstmal Ines, die schon zwei Jahre auf Vasco wartet, der an einer Expedition teilnimmt.
Als Titelfigur hat man Roberto Alagna engagiert. Leider ist der Startenor an diesem Abend indisponiert, lässt sich ansagen, hält sich aber lange Zeit wacker. Für Die berühmte Tenorarie „Land, so wunderbar!“ im vierten Akt erhält er verdienten Zwischenbeifall, doch danach kann er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht mehr erfüllen.
Ines wird von der georgischen Sopranistin Nino Machaidze gesungen, einer sehr hübschen jungen Frau in weißem Kleid (Kostüme: Marie-Thérèse Jossen). An der Mailänder Scala konnte sie Erfolge feiern und war auch schon in Wien zu hören. Vielleicht ist es Premieren-Nervosität, dass ihre Stimme anfangs recht viel Tremolo und immer wieder scharfe Höhen aufweist. Nur in den lyrischen Momenten überzeugt sie.
Ihre Dienerin Anna (Irene Roberts) berichtet vom Untergang der Flotte. Ein Anlass für Ines’ Vater, den Admiral Don Diego (gut: Andrew Harris), die Tochter gegen ihren Willen mit dem ehrgeizigen Don Pedro zu verheiraten. Seth Carico (Bass) singt und spielt diesen Fiesling hervorragend.
Wider Erwarten hat jedoch Vasco als Einziger die Schiffskatastrophe überlebt, breitet nun vor dem hohen Rat mitsamt der Geistlichkeit seine Zeichnungen aus und bittet, ihm eine neue Expedition anzuvertrauen. Die Regisseurin Vera Nemirova, offenbar eine Menschenkennerin, zeigt, wie unter dem Einfluss des Großinquisitors ( Dong-Hwan Lee) die Stimmung kippt. Der Ratsherr (Clemens Bieber) kann das Blatt nicht zugunsten von Vasco wenden, der die Existenz eines unbekannten Landes anhand zweier auf einem Markt gekaufter Sklaven beweisen will. Doch das ist gegen die Lehre der allmächtigen Kirche.
Vasco, rebelliert über soviel Engstirnigkeit, wird gefesselt und gefoltert und zusammen mit der beiden Sklaven Selica und Nelusco in den Kerker geworfen. Die – Sophie Koch mit ihrem ausdrucksstarken Mezzo – und Markus Brück mit seinem voll strömenden variantenreichen Bariton – werden die tatsächlichen Stars dieser Premiere.
Wunderbar, wie Sophie Koch – eigentlich eine indische Königin – sich gegen die beginnende Liebe zu dem Christenmenschen Vasco wehrt, aber ebenso gegen die raue Zwangsumwandlung zur christlichen Nonne. Eine, die dennoch diesem Christen aus Liebe zweimal das Leben rettet und zuletzt auf ihn zu Gunsten von Ines verzichtet.
Ganz intensiv agiert und singt Markus Brück als unerkannt hochrangiger Inder, der seine Königin beschützt, voller Wut ihre Zuneigung zu Vasco bemerkt und schließlich Bootsmann von Don Pedro wird, der mit Hilfe von Vascos Zeichnungen eine Flotte gen Indien befehligt.
Nelusco, voller Hass auf die Christen, vergewaltigt eine Frau und steuert die Schiffe im dritten Akt bewusst auf die tückischen Felsen, wo die Piraten schon auf die Opfer warten. Dem Don Pedro schneidet er selbst die Kehle durch, die übrigen werden mit Maschinenpistolen attackiert. Buhs brausen auf. Die realistische Anspielung an die Taliban oder IS-Terroristen stört einige beim gemütlichen Operngenuss. Die Heiden und Ketzer sind immer die anderen! Das Stück des jüdischen Komponisten Meyerbeer gibt das durchaus her und erweist sich insofern als überraschend heutig.
Dennoch hat es seine Längen, dehnt sich nach damaliger Sitte auf 5 Stunden (inklusive zweier Pausen) und kann sich trendmäßig nicht entscheiden. Zarte Zweisamkeiten im Dreivierteltakt, Liebes- und Hassgefühle, wilde (und durchaus gelungene) Massenszenen im Viervierteltakt und ein nur vermeintlicher Ausflug ins Exotische lassen das Publikum oft etwas ratlos. Zuletzt sehen und hören wir eine indisch-portugiesische Lovestory auf einem sicherlich gewollt kitschigen roten Blütenbett.
Selica hat Vasco noch einmal gerettet. Er – von Ines’ Tod überzeugt – lässt sich nach hinduistischen Ritus vom Oberpriester der Brahmanen (nobel: Albert Pesendorfer) trauen. Ein exotischer Tanz (Choreografie Bharti Ramdhoni, Silke Sense) wird aufgeboten. Endlich allein, entbrennt Vasco für Selica. Doch als Ines wieder auftaucht, erwacht die alte Liebe aufs Neue.
Jede der beiden Frauen will nun großmütig auf Vasco zugunsten der Rivalin verzichten, doch Selica, ganz königlich, schenkt den beiden die Freiheit. Sie selbst, aller Hoffnungen bar, wählt den Freitod und stirbt unter den giftigen Düften eines Baums, im Arm gehalten von Nelusco, dem Mann, der sie wirklich liebt. Markus Brück, vorher so feindselig, bringt das voll inniger Zärtlichkeit. Großartig! (Leider gab es von diesen beiden eigentlichen Stars des Abends – Sophie Koch und Markus Brück – kein honorarfreies Foto).
Als Matrosen fungieren Paul Kaufmann, Gideon Poppe und Thomas Lehman, den Gerichtsdiener singt Michael Adams.
Zuletzt steht Vasco, also Roberto Alagna, erneut wie ein jugendlicher Abenteurer, in Jeans und mit Rucksack am Seitenrand, doch der Beifall (gemischt mit wenigen Buhs fürs Regieteam) bleibt nach den 5 langen Stunden unangemessen kurz. Den größten Applaus ernten – neben Sophie Koch und Markus Brück – der omnipräsente und klangreiche Chor, einstudiert von William Spaulding, sowie der Dirigent und das Orchester. Ein zwiespältiger Abend gewiss, doch auch eine lohnenswerte Entdeckung.
Ursula Wiegand
Weitere Termine: 7., 11., 15., 18. und 24. Oktober