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BERLIN/ Deutsche Oper/ Staatsballett: FROM BERLIN WITH LOVE – und nun regiert die Sonne!

Berlin, Deutsche Oper: Staatsballett Berlin mit „FROM BERLIN WITH LOVE“ 6.6.2021 – und nun regiert die Sonne!

Spätestens seit dem Juni-Beginn hat sich das Blatt plötzlich gewendet, und die meisten wurden davon total überrascht. Auch die Politiker, die Pandemie-Experten und die Intendanten. Die Corona-Zahlen setzten vielerorts unerwartet zum Sinkflug an, und plötzlich herrschte in Teilen Europas sogar Sommerwetter. Die Zuversicht kehrte zurück.

In Berlin war der 6.6. ein Tag, an dem sich vieles überschlug. Dem Staatsballett hatte ich vorher schon zugesagt, ebenso der Neuen Nationalgalerie, die Ende April – nach der jahrelangen Sanierung – drei Tage der offenen Tür geboten hat.

Der Komischen Oper, die urplötzlich auch am 6.6. den „Z-Baron“ aus der Schublade holte und reduziert auf die Bühne hievte, musste ich daher absagen, Theater- und Konzerttermine waren (nicht nur) mir in dieser Fülle unmöglich. Live-Angebote allenthalben. Die Berliner Philharmoniker, die Staatsoper Unter den Linden und die Deutsche Oper lockern vernünftigerweise etwas später die Leinen. Etwas Vorbereitung tut meistens gut.

Ob die zahlreichen, am 6.6. gebotenen Live-Veranstaltungen bei reduziertem Publikum quasi ausgebucht waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Deutsche Oper erschien mir jedenfalls bei diesem Neustart des Staatsballetts relativ gut gefüllt. Draußen rund 30 Grad Celsius, drinnen angenehme Temperaturen. Kühle Getränke vorher auf dem geräumigen Platz neben dem Haus, drinnen ein Test-Center und eine geöffnete Bar.

 

Keineswegs unterkühlt waren die Darbietungen der Tänzerinnen und Tänzer bei dieser Neuauflage von „From Berlin with love“. Wie gerne sie wieder vor Publikum tanzten, war deutlich zu merken. Gefallen fanden bei den Anwesenden auch die unterschiedlichen Stücke und die damit ermöglichte Ausdrucksvielfalt. Charme und Können vereinigten sich bei den sieben kürzeren Darbietungen vor der Pause. Der Knaller wurde erneut das Erfolgsstück „Half Life“, eine modernen Choreographie von Sharon Eyal und Gai Behar, die seit der Premiere  am 7. September 2018 schon 28 Vorstellungen erlebt hat. Die Musik kam am 6.6. 2021 zumeist vom Band, wurde aber zweimal auch live gespielt von Alina Pronina am Flügel.

Der Abend begann mit dem BLUMENFEST VON GENZANO, einem Pas de deux nach August Bournonville, getanzt mit Charme und sehr guter Beinarbeit von Yuria Isaka und Murilo de Oliveira. Ein konservativer Start, der jedoch viel Beifall erhielt.

staatsballett berlin, drei paare im sommernachtstraum, foto yan revazov
Drei Paare im „Sommernachtstraum“. Foto: Yan Revazov

Der anschließende EIN SOMMERNACHTSTRAUM, ein Auszug aus der Choreographie von Heinz Spoerli nach der Musik von Philipp Glass, wurde von den Paaren Sarah-Jane Brodbeck/ Konstantin Lorenz, Evelina Godunova/Yevgeniy Khissamutdinov und
Alizée Sicre/Alexei Orlenco
mit Verve verwirklicht.

Beim anschließenden GRAND PAS CLASSIQUE von Victor Gsovsky konnte Daniil Simkin seine vorzügliche klassische Tanz- und Sprungtechnik zur Schau stellen. Seine Partnerin Aya Okumura hielt bestens mit. Besonders bei Simkin  prasselte der Beifall.

Dennoch zeigten sich beim Applaus bald Unterschiede. Das offenbar recht sachkundige Publikum würdigte zwar die klassischen Leistungen, zeigte aber noch mehr Verlangen nach modernem Tanz, so zunächst bei MARE CRISIUM, einer Choreographie  des einfallsreichen Staatsballett-Tänzers Arshak Ghalumyan.

Die temperamentvoll nach der rockigen Musik von Karl Jenkins tanzenden und hüpfenden Damen waren Iana Balova, Sarah Hees-Hochster, Krasina Pavlova, Eloïse Sacilotto und Pauline Voisard. Dieses Stück erhielt jedenfalls mehr Beifall als die vorherigen klassischen Varianten.

Dennoch hat Arshak Ghalumyan mit seinem neuen Stück PROMENADE,  einem Pas de Deux, gezeigt, dass er auch eine romantische Ader besitzt. Aus gutem Grund ließ er Alina Pronina Musik von Claude Debussy dazu spielen. Mit großartigem Können und Fantasie reicherten Alizée Sicre und Alexei Orlenco diesen intim wirkenden Spaziergang noch mit gelungenen Hebefiguren an und erweckten insgesamt den Eindruck, dass tatsächlich zwei Liebende spazieren gehen.

Auch bei der folgenden Choreographie – dem DUETTO INOFFENSIVO von Mauro Bigonzetti setzt die Pianistin mit Rossinis Musik die Akzente. In dem Stück geht es jedoch um Leben, Mitmenschlichkeit und den Tod. Intensiv und mit einem nicht alltäglichen Bewegungsvokabular haben das die beiden Solotänzerinnen Elisa Carrillo-Cabrera und Yolanda Correa glaubwürdig realisiert.

Die Letztgenannte steht gleich anfangs am Abgrund, wird aber von der anderen zurückgezogen. Sie nimmt sich ihrer an, versucht sie zu unterstützen, trägt sie mitunter auf den eigenen Füßen. Gemeinsam liegen sie auf dem Boden, sind zärtlich zueinander. Doch die Rettung der Gefährdeten misslingt. Zuletzt stehen sie beide am Abgrund und springen gemeinsam in die Tiefe. Eine Schockwelle geht spürbar durchs Publikum, und der Beifall danach ist voller großer Anerkennung.

Mit einem kurzen Stück, genannt GOPAK aus dem Ballett Taras Bulba endet der erste Teil dann doch in fröhlicher Stimmung. Gopak ist laut Internet ein wilder ukrainischer Volkstanz. Derjenige, der ihn vollführt, braucht eine besondere Sprungkraft und Fitness. Das kann in dieser Vollendung nur einer beim Staatsballett: der Solotänzer Dinu Tamazlacaru.  Der gibt hier keinen martialischen Mann, was der Gopak auch sein kann, sondern einen strahlend über die ganze Bühnenbreite in Körperdrehungen (!) fliegenden Superclown. Schon ist Schluss, aber nicht mit dem total überraschten und heftigen Beifall.

staatsballett berlin, half life, foto jubal battisti
Half Life. Foto: Jubal Battisti

Nach der Pause dann die schon erwähnte Erfolgschoreographie HALF LIFE mit dem pausenlosen Stampfen zu Ori Lichtiks Technoklängen. Frau und Mann ist das Thema. Sie tanzt mit den Händen schützend vor der Brust, presst auch die Schenkel ständig zusammen. Der Mann neben ihr tut herausfordernd das genaue Gegenteil.

Allmählich formt sich eine Gruppe von drängenden Tänzerinnen und Tänzern, die unablässig vorwärts rückend weiter stampfen und mitunter die Arme heben. Kondition ist dabei gefordert. Die haben Sarah Brodbeck, Filipa Cavaco, Weronika Frodyma, Mari Kawanishi, Danielle Muir, Tabatha Rumeur, Olaf Kollmannsperger, Konstantin Lorenz, Sacha Males, Johnny McMillan, Ross Martinson, Daniel Norgren-Jensen und  Eoin Robinson.
Die Erotik ist dabei ständig mit den Händen zu greifen. Nur manchmal öffnet sich die Haupt-Tänzerin, lockert Hände und Beine und zeigt vorsichtiges Verlangen. Lebt sie nur ein halbes Leben oder vielleicht auch das Publikum? Verständlich, dass danach heftig applaudiert und gekreischt wird. Dieses Stück trifft ins Mark, auch bei denjenigen, die es, wie ich, schon mehrmals gesehen haben.  

 Diesmal jedoch kommen mir auch einige neue Gedanken. Was ist denn eigentlich das ganze Leben?  Über ein Jahr lang haben wir immer wieder gehört sowie in Musik-affinen Medien gelesen, wie sehr allen das ganze Leben fehlt, weil uns Live-Kultur-Erlebnisse entgehen.  Wieviel Gejammere und Zorn wurden geäußert oder besser gesagt verbreitet.

Und was geschieht jetzt? Die Nachfrage nach Tickets z.B. bei der Wiener Staatsoper entspricht, wie am 9. Juni zu lesen war, so gar nicht den vorher geäußerten bitteren Klagen und den entsprechend hohen Erwartungen. Hat man in gewissen Medien viele Monate lang unaufhörlich die Meinung einer fast winzigen Minderheit vertreten, also noch weit weniger als Half Life sprich Halbwahrheiten?  

Ist diese jetzt offenbar werdende Zurückhaltung, die die Hochkultur-Lobbyisten arg enttäuscht, nur den momentanen Zumutungen vor und beim live-Erlebnis zuzuschreiben? Offensichtlich brauchen die Menschen nach den Lockdowns und besonders im Sommer anderes weit mehr – die Sonne und das wahre Leben draußen anstelle von Live-Aufführungen in dunklen geschlossenen Räumen. Vermutlich wollen sehr viele lieber ins Fußballstadion, ins Openair Rockkonzert oder ganz schlicht bei Kaffee und Kuchen auf einer Terrasse  sitzen.

Das Staatsballett Berlin trägt diesem Verlangen Rechnung, macht das sommerliche Berlin zur Bühne und tanzt am 10. Juni ab 18:00 Uhr auf einem Ausflugsschiff bei dessen Fahrt durch die Innenstadt!  Gezeigt werden Auszüge aus dem Repertoire. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können das am Ufer ohne Tickets und Tests erleben. Zur Nachahmung empfohlen, auch wenn’s etwas Mühe macht, meint die Berichterstatterin 

Ursula Wiegand

 

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