Copyright: Thomas Aurin
BERLIN / Deutsche Oper: IL VIAGGIO Á REIMS – Premiere; 15.6.2018
Jan Bosse inszeniert die absurde Nummernrevue als eine europäische Parabel von sich in ständiger Selbstbespiegelung tummelnden eitlen Narren
Eine Schar junger Leute sitzt fest, in einem Krankensaal oder einer geschlossenen Anstalt. Das weiß man nicht so genau. Ein steriler akustisch ungünstiger Kubus aus rechteckigen Spiegelscheiben mit weiß stählernen Betten an den Wänden fungiert als Bühnenbild (Stéphane Laimé). Später doppeln noch filmische Nahaufnahmen (Meika Dresenkamp) der Protagonisten als Hintergrund diese Welt der Eitelkeiten, der Selbstbezogenheit, der albernen Spiele und Liebesränke. In den Betten räkeln sich Mann und Frau, 18 an der Zahl. So viel solistische Partien gibt es in Rossinis absurd närrischer Krönungskantate „Il viaggio á Reims“. Freilich reist hier niemand. Die Wirtin des „Gasthofs zur Goldenen Lilie“ im Vogesenkaff Plombières, Madama Cortese, ist nämlich in der Inszenierung von Jan Bosse die prallbusige Oberschwester (mit metallischer Koloratur und alle Ensembleszenen übertönend Hulkar Sabirova), die ihren Käfig voller Narren fest im Griff hat.
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Zu Zeiten Rossinis konnte die Weiterreise zu den Krönungsfeierlichkeiten des französischen Königs Karl X. mangels Pferden und Kutschen nicht angetreten werden, heuer wäre es eher wohl wegen eines Streiks der Fluglotsen oder gehaltsmäßig unzufriedener Piloten. Aber macht nichts, dafür gibt es bald eine Riesenparty in Paris, wohin die modebesessene Contessa di Folleville (Siobhan Stagg mit apart leuchtenden Koloraturen) lädt. Das muss allerdings ein Traum bleiben, denn niemand wird so bald diesen hermetischen Raum verlassen, wo sie alle ihre eigenen Geschichten, ihren eigenen Senf, ihren eignen Ulk feiern. Da darf der umjubelte Bariton Davide Luciano als Don Profondo in seiner Arie „Medaglie incomparabili“ zum italienischen Text die Akzente der Sprachen deutsch, französisch, englisch und russisch imitieren. Dazu tragen alle ihre Landesfarben-Pumpanellas, darunter enthüllen sie Satinhöschen mit der europäischen Flagge als wirkungsvollsten Gag des Abends.
Die europäische Idee war damals ja noch eine Zukunftssache, „inklusive der absurden Hoffnung auf Rettung durch die Reste des Absolutismus unter Herrschaft des christlichen Kreuzes. Rossinis Krönungsoper wurde zusammen mit ihrem gefeierten Gegenstand, Karl X., schon fünf Jahre später durch die Pariser Julirevolution weggefegt.“ Jan Bosse will mit seiner Interpretation ein Europa zeigen, wo „die europäische Idee nur noch zwanghaft aufrechterhalten wird, da wahrhaft verbindende Momente fehlen und die Angst vor allgemeinem Verfall und unberechenbarem Chaos stärker ist als der Mut, etwas Gemeinsames zu wagen. Der Stillstand im Stück, der mit Aktionismus und – beim großen Fest am Ende – auch mit Hedonismus überspielt wird, weist einige spannende Parallelen zu unserem heutigen Europa auf.“ Gemäß der literarischen Vorlage von Luigi Balochi dürfen auch europäische nationale Klischees nicht: Der feurige Spanier und der eifersüchtige Russe kämpfen um die schöne Polin. Die exaltierte Französin denkt nur an ihre Garderobe. Der Deutsche versucht Streitigkeiten zu schlichten der unglücklich Liebende, die leidende Diva, das eifersüchtig sich umkreisende Paar, der komische Kauz.
Diese Oper ist rein musikalisch ein funkelndes Juwel. Nie werde ich die Wiener Premiere unter Claudio Abbado in der Regie von Luca Ronconi in der Ära Drese vom 28. Jänner 1988 vergessen. In Berlin hat sich das Haus nicht für den großen Starrummel wie damals in Wien entschieden, sondern besetzt das brillante Ensemblestück mit hauseigenen Kräften oder jungen Gästen. Die vokale Palme gebührt Elena Tsallagova als Corinna, die ihre zwei nur mit Harfe begleiteten Arien in überirdischer Leichtigkeit und Eleganz vorträgt. Bei Bosse ist sie eine Vision, eine Hoffnung, der die Insassen in Leidenschaft erliegen. Der Brrite Lord Sydney verfällt ob seiner Leidenschaft zu ihr in tiefe Depression. Der Georgier Mikheil Kiria darf in dieser Rolle mit höhenmächtigem Bariton und insgesamt enorm belastbarem Material als Entdeckung des Abend gelten. Gleich dahinter rangiert für mich der lyrische Tenor Davor Portillo als Conte di Libenskof. Ein in allen vokalen Straosphären beheimateter Höhentiger mit wunderbar timbrierter, stets gut gedeckter Stimme. Sein Duett „Di che son reo?“ – „D’alma celeste, oh dio!“ mit der Marchesa Melibea (mit entwicklungsfähigem Mezzo Vasilisa Berzhanskaya) gehört zu den Höhepunkten der Aufführung. Philipp Jekal als Barone di Trombonok darf beim festlichen Gelage die deutsche Hymne: „Or che regna fra le gente“ schmettern, Gideon Poppe in der Rolle des Cavaliere Belfiore ist ganz französischer Kavalier. Der Rest des Ensembles ist mit Dong-Hwan Lee (Don Alvaro), Sam Roberts-Smith (Don Prudenzio), Juan de Dios Mateos (Zefiriono), Alexandra Ionis (Maddalena), Meechot Marrero (Modestina), Davia Bouley (Delia) und Byung Gil Kim (Antonio) typengerecht und gut besetzt.
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In der Deutschen Oper werden das Produktionsteam und das beeindruckende Sängerensemble heftig gefeiert. Buhs gibt es einmal ausnahmsweise nicht. Wenn ein Einwand zu erheben ist, so leitet Dirigent Giacomo Sagripanti das Orchester der Deutschen Oper Berlin bisweilen allzu derb und laut, mache der jungen Stimmen gnadenlos überdeckend. Ein wenig mehr an Feinschliff und Raffinesse hätte dem Abend gut getan. Wie das gehen kann, ist ja jederzeit auf Tonträger (Abbado 1984 Pesaro) nachzuhören.
Weitere Aufführungen am 22., 24. und 30.6., 5.7.
Dr. Ingobert Waltenberger