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BERLIN / Chamäleon – PLAY DEAD von und mit PEOPLE WATCHING – Premiere; 30.1.2025

BERLIN / Chamäleon – PLAY DEAD von und mit PEOPLE WATCHING – Premiere; 30.1.2025

Die junge kanadische Truppe enthusiasmiert mit einem atemberaubend surreal-bewegungseskapistischen Abend; (Über)Sinnliches als Korrelat zum unheimlichen Alltag

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Foto: Anna Fabrega

„In unserer Arbeit geht es auch darum, wie das Element des Risikos, das immer mit der Zirkuswelt einhergeht, soziale Dynamiken neu entfaltet und definiert.“ Brin Schoellkopf.

Gefunden haben sie sich 2020 auf der Artistenschule in Montréal. Die sechs Gründungsmitglieder von People Watching (Ruben Ingwersen, Jérémi Levesque, Natasha Patterson, Brin Schoellkopf, Jarrod Takle und Sabine Van Rensburg) haben ihre erste große Arbeit „Playing Dead“ 2024 ins Leben gerufen, und zwar beim Festival Quartiers Danses in Montréal. Deutschland-Premiere war letzten September beim Düsseldorf Festival. Im Berliner „Chamäleon“ können wir nun eine personell (Sereno Aguilar Izzo, Imogen Huzel) und zeitlich um ca. 30 Minuten erweiterte Fassung erleben. Das erregende, die Gegenwart zum absurden Gradmesser innerer Zerrissenheit wie humoristischer Auflösungen machende, theatralisch spielerische Stück ist in Berlin noch bis zum 1. Juni 2025 zu sehen.

Das Ensemble People Watching – und man bekommt wirklich den Eindruck, dass bei aller künstlerischen Überhöhung genau auf das sich windende Maul der Jetztzeit geschaut wurde – arbeitet als Kollektiv. Das heißt, jeder und jede machen alles und sind für alles bereit, sie packen überall gemeinsam mit an. Die künstlerische Leitung, die Choreografie und sonstige Notwendigkeiten im Prozess (bis hin zum Kaffeekochen, nehme ich an) obliegt je nach Begabung den einzelnen Mitgliedern des Ensembles. Konzept und Regie stammen ebenfalls vom gesamten sechsköpfigen Kern.

People Watching hat den Begriff des zeitgenössischen Zirkus, für den das Berliner „Chamäleon“ so erfolgreich steht, sehr weit gedehnt. Ich halte Playing Dead eher für ein Theaterstück in pantomimischer Ästhetik der Stummfilmzeit, für ein originelles Bewegungstheater mit Elementen aus Modern und klassischem Dance (immerhin gibt es drei „pas de deux“ zu bestaunen) sowie Akrobatik, mit Spaß an den Ingredienzien eines poetisch schillernden Gruselschockers.  

Ein düsterer Raum (Set Design Emily Tucker), es könnte ein Dachboden einer altmodischen Villa mit verstaubten Möbeln am Lande sein, wo die acht Youngsters eine Party feiern. Oder sie treffen unbekannt zu einer das Unheimliche erkundenden Séance aufeinander? Da reißt eine Frau Karotten aus dem Blumentopf und isst, eine andere klettert auf den Vorhang. Es wird gemurmelt, Körper bewegen sich elastischen Gummiteilen gleich, wie zum Leben erwachte Wesen der Geschichte bzw. den Geschichten, die Leben und Kunst erzählen.

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Foto: Anna Fabrega

Zu den Klängen des „Preludio in g-Moll“ und „Sueno en la Foresta“ des paraguayischen Komponisten und Gitarrenvirtuosen Agustín Barrios Mangoré entwickelt sich das fluide Miteinander zu einem kafkaesken Oktett. Das Spiel mit Berührungen, die Ironisierung der klassischen Zirkusmuster erlauben völlig neue Perspektiven auf das Genre. Beziehungsschieflagen scheinen ihren Ausweg in spektakulärer Artistik und surrealer Verzückung zu suchen und zu finden.  

Ein endzeitlich und unentschlossen sich gerierendes Jetzt trifft auf die sentimental-pathetische Sehnsucht nach verlorener Magie und doch noch existierendem Zauber/Verzauberung.

Seien es je nach individuellem Erfahrungshorizont des Publikums historische Romane, Kinofilme, dystopische Utopien, Opernklänge, das Atemanhalten vor dem riskanten, in Todesgefahr absolvierten Akt, das Alltägliche bekommt Urlaub. Und dennoch ist es da und gegenwärtig. Das ist der eigentliche Hammer an diesem Abend, der so imaginativ die Zeit in ihrem unendlichen Fluss in Bewegungen und aus ihnen sich entwickelnde Geflechte transponiert. Die Palette an (Ver-)Drehungen und Wendungen, Absacken und Erschlaffen von Körpern, Handreichungen im Wiederhochziehen des gestellt Leblosen gipfelt in hypnotisch-kybernetischen Energien, die das Publikum unmittelbar trieffen, und zwar unerschrocken, manchmal hart, bisweilen im Frechen zum Lachen animierend.

Nicht zuletzt der Titel „Sich totstellen“ setzt auf ein vielschichtig identifizierbares Verhalten. Dieses reicht vom kindlich spielerischen Entzug von Realität durch Schließen der Augen (Vogel-Strauß-Posen) über das Abwimmeln des Lästigen (etwa einen unliebsamen Telefonanruf einfach nicht annehmen, Brief nicht öffnen) bis zu einer instinktiven Reaktion, einer lebensbedrohlichen Situation zu entgehen, indem dem Gegner das eigene Ableben vorgetäuscht wird. Unter „Playing Dead“ firmiert aber auch eine Episode der TV-Serie „Law & Order“, eine Geschichte im Buch „Just Tricking“! von Andy Griffiths oder ein französischer Comedyfilm aus dem Jahr 2013.

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Foto: Anna Fabrega

Im Chamäleon geht es in dieser faszinierenden Produktion sicherlich in jeder Minute ums Leben, um uns und unsere teils absurd sich umeinander wickelnden Bedingtheiten aus der Brille aktueller Trends. Oder wie das in einem Text des Hauses zu lesen ist: „Der nahende Abschied von Unbeschwertheit und Sorglosigkeit – ein immanenter Teil der Conditio Humana. Doch für übertriebene Melancholie ist die Zeit zu knapp. Besser noch einmal das Leben feiern, bevor der Spaß zu Ende ist.“

Was wichtig zu erwähnen ist: Es geht den „Acht Gloriosen“ von „People Watching“ nicht um die spektakulärsten Nummern um ihrer selbst willen. Daher erschien mir jeder Applaus nach besonders halsbrecherischen Darbietungen unpassend. Vom Balance-act auf Flaschenhälsen über eine zwangsjackenbewehrte Selbst-Entfesselungsaktion eines mit den Beinen nach unten hoch über dem Publikum aufgehängten Trapezkünstlers unter Zeitdruck (sein Kumpel auf der Bühne hat den Kopf derweil ins Wasser gesteckt und wartet sprichwörtlich atemlos darauf, dass der Befreite ihn von dieser Situation erlöst) bis zu subtilerem, klaustrischem Kriechen nach Reptilienart im offenen Kleiderkasten.

Das Risiko, etwas oder jemanden oder sich selbst zu verlieren. Die Anti-Schwerkraft des Begehrens, die Asymmetrie der Liebe – dazu fällt mir der Mercury-Song „Love kills“ ein: ‚Love don’t give no compensation,.. love wan‘t stand still, love kills, drills you through your heart‘ – die Unmöglichkeit eines Miteinanders als auch eines Ohne-Einanders, die Verlorenheit im Anderen, das In- und Aneinander Vorbei-Fliegen, nie ward es intensiver, in ihrer Abstraktion greifbarer und packender erzählt als an diesem Abend.

Gewürzt mit Musik aus Massenets „Herodiade“, dem ersten Klavierkonzert von Tchaikovsky, dem Schwan aus Camille Saint-Säens „Karneval der Tiere“ oder schließlich der Habanera aus Bizets „Carmen“ (‚L‘amour est un oiseau rebel‘) lösen wir uns aus dem Labyrinth der Empfindungen, können in der Schönheit und Vergänglichkeit aus Sessel-Balancieren, Teller-Jonglage, Tumbling, Parkour und Trapez baden, den Kitzel des freien Falls genießen im Bewusstsein, wieder sicher zu landen. Spätestens mit dem tröstlichen Schlussbild, wo alle übereinander sich zu einer Art zärtlicher Skulptur vereinen.

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Foto: Anna Fabrega

Vieles bleibt an dem Abend bruchstückhaft, Fragment. Das dunkle Licht trägt dazu bei, dass Gefühle immer wieder über das Kognitive triumphieren. Dazwischen die Listigkeit von Slapstick und Clowneskem, das gewollte Auflösen der Grenzen zum Publikum. Zum Schluss möchte ich noch einmal Brin Schoellkopf zitieren: „Verwandlung ist eines der großen Themen. Wir sehen den Charakteren dabei zu, wie sie sich langsam von Gesellschafts- und Verhaltensnormen lösen.“  Sehen Sie selbst! Erlauben Sie sich mit Watching People eine persönliche Entdeckungsreise. Wo? Im Chamäleon Berlin in den Hackeschen Höfen, Rosenthaler Straße 40/41, 10178 Berlin.

chamaeleonberlin.com/de/shows/play-dead

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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