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BERLIN/ Berliner Ensemble: ENDSTATION SEHNSUCHT von Tennessee Williams. Premiere

Ein Volltreffer

22.04.2018 | Allgemein, Theater


Sina Martens (Stella), Andreas Döhler (Stanley), Cordelia Wege (Blanche), Foto Matthias Horn.

Berlin/ Berliner Ensemble:ENDSTATION SEHNSUCHT“ von Tennessee Williams, Premiere und ein Volltreffer! 21.04. 2018

Endstation Sehnsucht“ – da ist es wieder, dieses berühmte, psychologisch grundierte Drama, für das der Autor Tennessee Williams 1948 den Pulitzer Preis erhielt. Den Polen Stanley Kowalski spielte bei der Uraufführung am Broadway im Dezember 1947 der junge Marlon Brando. Nach der Verfilmung des Stückes durch Elia Kazan im Jahr 1951 – mit der fabelhaften Vivien Leigh als Blanche – wurde Brando zum Weltstar.

Wer diesen Film gesehen hat, zögert fast, sich diese neue Theaterversion von Michael Thalheimer im Berliner Ensemble in der Übersetzung durch Helmar Harald Fischer anzuschauen. Die Furcht vor einer Enttäuschung ist diesmal jedoch unbegründet. Thalheimer und seiner Crew ist ein bis in die Details stimmiger Volltreffer gelungen, der jeden Vergleich aushält oder gar übertrifft. Vor allem aufgrund der perfekt ausgewählten Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich in ihre Rollen werfen und die handelnden Personen glaubhaft und realitätsnah verkörpern.   

„A streetcar named desire“, lautet der originale Titel auf Englisch, entlehnt von einer Straßenbahn in New Orleans, die bis in die verwahrlosten Bezirke fuhr. Dorthin, wo die Armen und Migranten in den 1940’er Jahren ein schäbiges Zuhause gefunden hatten. Wer an dieser Tram-Endstation ausstieg, hatte eigentlich schon verloren und war in Gefahr gänzlich abzurutschen. Oder, anders gesehen, bekam dort in der damals Einwandererfreundlichen USA die Chance, durch harte Arbeit den „amerikanischen Traum“ zumindest teilweise für sich zu verwirklichen.

Passend zur Abrutschgefahr hat Olaf Altmann, Thalheimers Langzeit-Weggefährte, eine von rechts oben nach links unten reichende Schräge in die Bühne hinein gebaut. Diejenigen, die auf ihr – zur oft dramatisch aufbrausenden Musik von Bert Wrede – ganz vorsichtig hinuntergehen, müssen wirklich aufpassen, um nicht ganz ins Abseits zu geraten. Oder sie müssen sich aus diesem Quasi-Untergrund einigermaßen emporarbeiten wie der Automechaniker Stanley Kowalski.

Nun aber kommt Blanche DuBois plötzlich hier an, die Feine, Zerbrechliche, ein Paradiesvöglein aus einer traditionsreichen, einst wohlhabenden Südstaaten-Familie. Völlig pleite ist sie und will nun bei ihrer jüngeren Schwester Stella unterschlüpfen. Das hochherrschaftliche Anwesen Belle Rêve („Schöner Traum“) ist ihr, wie sie es ausdrückt, weggerutscht. Der Traum ist ausgeträumt.

Mit Geld konnte sie ohnehin nie umgehen, nur mit ihren zahllosen Männern, wie sich später herausstellt. Nach einem Verhältnis mit einem 16-jährrigen Schüler des Gymnasiums in ihrer Heimatstadt Auriol, wo sie als Englischlehrerin tätig war, wurde sie fristlos gekündigt. Schon vorher waren ihre häufigen Männerbesuche im schäbigen Flamingo-Hotel für die konservativen Kleinstädter ein Ärgernis.   

Jetzt also steht sie in der Haustür, und Stella lädt sich freundlich ein, bei ihr und Stanley zu bleiben. Doch statt Dankbarkeit zu zeigen, plustert sich Blanche erstmal auf, was sie alles beim Tod der Familienmitglieder erduldet habe und wie viel Geld die Beerdigungen gekostet hätten.

Stellas selbst erntet ebenfalls hochnäsige Kritik. Blanche, die sich noch immer für etwas Besseres hält, zeigt sich entsetzt über die kleine Wohnung mit nur zwei Zimmern und kritisiert mit scharfen Worten Stellas Aussehen. Die hört darüber hinweg, und dass sie einen Babybauch hat, bemerkt die nur auf sich konzentrierte Blanche gar nicht.


Sina Martens (Stella), Andreas Döhler (Stanley), Cordelia Wege (Blanche), Foto Matthias Horn.

Wie diese beiden so unterschiedlichen Frauen miteinander umgehen, das ist dank Cordelia Wege als Blanche und Sina Martins als Stella große Schauspielklasse. Bis in die zitternden Fingerspitzen und mit gelegentlich charmantem Lächeln gibt Cordelia Wege die in weißer Robe in die primitiven Verhältnisse eindringende Blanche (Kostüme: Nehle Balkhausen).

Und agiert dort auch sogleich nach Gutsherrinnenart. Stundenlang blockiert sie die Badewanne, um ihre Nerven im heißen Wasser zu beruhigen. Sie raucht, trinkt und fordert gedämpfte Beleuchtung (Licht: Ulrich Eh), um die Spuren ihres Lebenswandels im Gesicht zu verbergen. Ständig braucht sie die Bestätigung ein, wie schön sie sei.

Dass dieses ebenso hysterische wie total rücksichtslose Gehabe dem Arbeiter Stanley sehr schnell auf den Wecker geht, ist mehr als verständlich. Andreas Döhler spielt völlig glaubhaft diesen schlauen Bodenständigen, der sich nichts vormachen lässt. Der kippt ihren Koffer aus, findet Schmuck und Pelzplunder, aber statt Geld und Verkaufsunterlagen zu Belle Rêve nur vergilbte Liebesbriefe. Alles verprasst, kein Erbe.

Doch Stella, voller Schwesternliebe, bittet ihn immer wieder, nett zu Blanche zu sein, schützt sie, obwohl sie weiß, wie jähzornig der kräftige Stanley sein kann, insbesondere nach dem Saufen bei den Pokerrunden. Tatsächlich verprügelt Stanley, der beim Pokern, gestört durch Blanches lautes Radio verliert, die schwangere Stella. Nur seine Kumpanen und die Nachbarn (Kathrin Wehlisch als Eunice, Henning Vogt als Steve und Sven Fleischmann als Pablo) verhindern Schlimmeres.

Stella weint herzerreizend und flieht zu den Freunden, doch Stanley ruft sie mit tränenerstickter Stimme wieder zu sich und bittet um Verzeihung. Und sie kommt zurück, sie kann verzeihen, beide brauchen die gegenseitige körperliche Liebe.  

Auch die sexgierige Blanche will wieder einen Mann haben. Mit vor Begehren zitternden Händen lockt sie einen jungen Kassierer (Max Schimmelpfennig) zu sich heran, um ihm einen Kuss zugeben und hofft auf mehr. Der entfernt sich schnell. Großartig spielt Cordelia Wege (nicht nur) diese Szene.

Umso vorsichtiger taktiert sie gegenüber Stanleys Freund Mitch, den will sie sich als letzten Retter angeln, hat sich doch der Junggeselle, der seine sterbenskranke Mutter pflegt, geschwind in sie verliebt und will sie sogar heiraten. Herrlich täppisch gibt Peter Moltzen den völlig Unerfahrenen, der nur zögernd und ungeübt den ersten Kuss wagt. Blanche, die ihm raffiniert die keusche Jungfrau vortäuscht, verheimlicht ihm ihr Alter.

Andererseits erzählt sie ihm, wie schuldig sie sich am Tod ihrer ersten Liebe fühle. Der junge Mann hätte sich, nachdem sie ihn als Schwächling bezeichnet hatte, mit einem Kopfschuss das Leben genommen, der sein Gehirn weggeblasen hätte. Ein für sie unvergesslich schlimmer Anblick. Tennessee Williams scheint darin à la Sigmund Freud den Grund für ihre krankhaften Störungen zu sehen.

Der hellwache Stanley, der Blanche längst durchschaut hat, forscht derweil in ihrem Heimatort nach und warnt den unbedarften Mitch vor ihr. Genau an Blanches Geburtstag erzählt er das der entsetzten Stella. Ein Riesenstreit bricht aus, Blanche beschimpft Stanley als „Polacken“ und entgeht nur knapp seiner Prügel. Als Geburtsgeschenk drückt Stanley ihr mit scheinheiligem Lächeln ein Briefchen mit einem Rückfahrtschein in den Heimatort in die Hand. Vor lauter Aufregung setzen bei Stella plötzlich die Wehen ein. Wie liebevoll trägt Stanley nun seine Frau auf starken Armen die Schräge empor, um sie schnell ins Krankenhaus zu bringen.  

Als der gewarnte Mitch nach zunächst versäumter Verabredung doch noch zu Blanche kommt und sie wegen ihrer Vergangenheit zur Rede stellt, treibt sie ihn mit den Rufen „Feuer, Feuer, Feuer“ wie wahnsinnig aus der Wohnung. Stanley, nun allein mit ihr, will angeblich weiter Geburtstag feiern. Sie fantasieret von einer gerade erhaltenen Einladung eines Millionärs zu einer längeren Kreuzfahrt. Er spottet darüber und vergewaltigt sie, was aber nur angedeutet wird.

Wie irre rutscht nun Blanche nach dieser Erniedrigung mehrmals vergeblich das Treppengeländer empor, laut schreiend „Ich muss unbedingt hier raus! Das ist eine Falle!“  Doch hat sie sich in diese nicht selbst hineinbegeben, als sie bei der Schwester Zuflucht suchte? Auch von der war vorher mal kurz der Ruf „ich will hier raus“ nach einer Attacke von Stanley zu hören, hatte aber keine Folgen. Per saldo hat sich Stella mit den Umständen und Stanley abgefunden.

Am Tag nach der Geburt ist sie wieder daheim und muss mitansehen, wie Blanche von einem Arzt und einer Krankenschwester (Rayk Hampel und Marie Benthin) abgeholt wird, die sie – sicherlich auf Initiative Stanleys – in die Psychiatrie bringen. Ziemlich erschüttert beobachtet Mitch dieses Geschehen. Im Film nimmt Stella danach ihr Baby, um Stanley zu verlassen. In Thalheimers Version ist davon nichts zu erkennen. Vermutlich schafft sie es gar nicht, sich von diesem (potenten) Mann zu lösen. Und wo sollte sie, die Mittellose, auch hin?  

Nach diesen zwei pausenlosen, hochkonzentrierten Stunden braust lang anhaltender Jubel durch den großen Saal. Den haben alle mehr als verdient, auch das Regieteam. Sina Martens, die berührende Stella, hat Tränen in den Augen, so sehr hat sie sich in ihre Rolle vertieft. Ein Ausnahme-Abend, der nachklingt.

Ursula Wiegand

Weitere Termine am 22. und 30. April sowie am 01., 11. und 12. Mai 

 

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