Die innere Vorstellung nach außen kehren…
Wenn sich der Schweizer Pianist Benjamin Engeli jetzt der Klaviermusik von Johannes Brahms annimmt, markiert dies für ihn eine Art Zentrum, in das er sich vorgetastet hat. Engelis aktuelle CD mit den Balladen aus Johannes Brahms Frühwerk, den in der Lebensmitte stehenden Rhapsodien und den altersmilden, zarten Intermezzi bilden nicht weniger als die Lebensspanne dieses Komponisten ab. Und als Finale gibt es “puren Bach”, denn nichts anderes ist die Bearbeitung von dessen Chaconne allein für die linke Hand. Im Gespräch mit Benjamin Engeli konnte man auch mal ins philosophieren geraten…
Das Interview führte Stefan Pieper
Wie ist es bei Ihnen zu dieser Brahms-Aufnahme gekommen?
Brahms war schon zu meinen Teenagerzeiten mein Lieblingskomponist. Aber ich habe mir bei der Annäherung an seine Musik Umwege geleistet. Zuerst standen seine Sinfonien im Zentrum meiner Aufmerksamkeit. Ich habe ja auch Horn studiert und dadurch einen starken Bezug zur Orchestermusik. Später rückten seine Klaviertrios, aber auch die Klavierquartette und das Quintett in den Fokus. Auch die beiden Klavierkonzerte habe ich einige Male aufgeführt. Erst danach war die Zeit reif für die Solostücke. Sie waren schon lange ein Wunschprojekt, um tief einzutauchen.
Also sind Sie bei dieser Entwicklung von der Kammermusik zum Solo gewissermaßen ins Zentrum vorgestoßen?
Das könnte ich genauso unterschreiben. Ich hatte als junger Pianist erst mal Hemmungen, mich ganz zu öffnen. Ich habe Zeit gebraucht, um Sicherheit zu bekommen und in dieser Hinsicht vor allem von meinen Kammermusikpartnern viel gelernt. Vor allem durch sie kam ich dahin, mich auch allein auf der Bühne gut zu fühlen und endlich zu genießen, was ich früher gefürchtet hatte.
Wie helfen einem Kammermusikpartner auf diesem Weg?
Im Spiel mit anderen herrscht viel mehr Interaktion. Ich fand es immer sehr inspirierend, im Konzert auf den Input von anderen zu reagieren. Da bleibt gar keine Kapazität mehr für Ängste. Es ist wie ein Hin- und Herwerfen von Bällen. Dies ganz im Unterschied zur Situation als Student, wo man auf einen Lehrer reagiert. Auf der partnerschaftlichen Ebene im Rahmen von Kammermusik ist vieles ausgeglichener und passiert ganz intuitiv. Das ist der beste Lernprozess.
Wieweit beeinflusst die Kammermusik das unmittelbare Spiel?
Das Klavier wird oft als Perkussionsinstrument missverstanden – damit habe ich Probleme. Wenn man viel mit Partnern interagiert, führt dies zu einem viel horizontaleren Klanggefühl. Ich habe mit der Zeit immer mehr Wert darauf gelegt, Linien und große Bögen zu spielen.
Was für Herausforderungen stellt das Repertoire auf der neuen CD?
Der Spannungsbogen auf der CD bildet den Lebenskontext von Brahms ab. Die Musik wird immer feiner und zarter. Die sind bei den verschiedenen Stücken ganz unterschiedlich gelagert. Brahms ist immer eine sehr dichte Musik, die einem alles abverlangt. Vor allem die Intermezzi sind extrem anspruchsvoll. Es hat einen langen anstrengenden Tag im Studio gekostet, alles zur vollen Zufriedenheit einzuspielen. Die Balladen, die am Anfang der CD stehen, sind deutlich zugänglicher. Aber man muss auch hier tief in den Moment eintauchen können.
Wie war der Prozess der künstlerischen Aneignung vor der Aufnahme?
Ich habe die Stücke schon lange vor den Aufnahmen im Konzert gespielt – oft auch in Kombination mit Werken anderer Komponisten.
Was spielt sich im Kopf dabei ab? Ist es ein reines Erfühlen oder spielt die Biografie eine wichtige Rolle?
Ich versuche mich immer über die Lebensumstände der Komponisten zu informieren- und gerade bei Brahms und den Werken dieser CD scheint mir ein Bezug zu den drei verschiedenen Lebensphasen enorm wichtig. In der letzten Lebensphase hatte Brahms sich bereits selbst pensioniert, um sich dann mit den Werken für Klarinette und den späten Klavierstücken noch einmal zurück zu melden. Da liegt der Wunsch in der Luft, etwas besonderes zu sagen. Das hilft, die Stücke zu verstehen. Je mehr man eintaucht, desto mehr staunt man.
Brahms muss ein feinsinniger Jüngling gewesen sein. Aber unter der Oberfläche lodert es gewaltig, wovon der forsche Gestus in den Balladen zeugt. Wie sehen Sie es?
Das Lesen von Biografien birgt die Tendenz zu schnellen Schlüssen. In Johannes Brahms war schon sehr viel “drin”. Davon zeugen auch die drei frühen Klaviersonaten, welche wuchtige Klangtürme aufbieten. Insgesamt überrascht mich aber gerade bei den Balladen das feinsinnige noch mehr als das wilde.
Führt bei jedem Pianisten die logische Entwicklung von Beethoven zu Brahms?
Beide sind meine Lieblingskomponisten. Mit Beethoven habe ich vor neun Jahren eine CD gemacht. Mich hat diese Klarheit der Gedanken so fasziniert, und ich fand es den idealen Ausgangspunkt – um mich vermehrt auf die Solokarriere zu konzentrieren. Mit Beethoven geht das Pianistische in der Musikgeschichte erst richtig los. Für keinen Pianisten führt der Weg an ihm vorbei. Für mich war dann die Entwicklung zu Brahms hin tatsächlich logisch und folgerichtig.
Die Rhapsodien verweigern sich der freien Form, die der Titel suggeriert. Stattdessen sind sie formal stark durchkomponiert. Welche Schnittstellen zu Beethoven sehen Sie hier?
Brahms hatte eine hohe Ehrfurcht vor Beethoven. Ja, man könnte sagen, er hat sich schon fast etwas gequält dabei, vor Beethovens formaler Meisterschaft bestehen zu können. Erst im reiferen Alter fühlte sich Brahms erfahren genug, um dort einzutauchen, wo Beethoven angefangen hat.
Warum steht die Bearbeitung von Bachs Violin-Chaconne erst am Ende dieser Aufnahme?
Ich hatte recht lange überlegt und auch mal geplant, die Chaconne an den Anfang zu stellen. Aber das funktionierte überhaupt nicht. Bach als Finale hat doch viel mehr Wirkung. Bach wird in dieser Bearbeitung absolut pur kredenzt und jeder Ton wurde eins zu eins übernommen. Damit ist dieses Stück auch in seiner Reinheit allen anderen Bearbeitungen – etwa von Busoni – überlegen. Für Brahms war die Beschäftigung mit Tradition immer das A und O. Deswegen darf dieser Aspekt nicht fehlen, wenn ich die künstlerische Vita in seiner Gesamtheit abbilden will.
Dieses kolossale 15-Minuten-Werk wird ja nur mit der linken Hand gespielt. Geht so etwas physisch an die Substanz?
Absolut. Ich hatte früher schon mal eine intensive Phase mit diesem Stück. Da musste ich während der Arbeit ein paar Tage aussetzen. Auch während der Aufnahme musste ich öfter Pausen einlegen. Vor allem die Spannung zwischen Daumen und Zeigefinger in den Arpeggien ist heftig. Die Beschränkung auf die eine Hand ist von Brahms ganz bewusst als Herausforderung angelegt – sozusagen als Anstrengung, um eine höhere Dimension zu erreichen. Ja, es ist schon eine Grenzerfahrung.
Jetzt ist mal Zeit für eine etwas philosophische Frage: Mit einem Klavier tut man ja de facto nicht mehr, als durch das Anschlagen der Tasten Töne zu produzieren. Wo liegt das Geheimnis, um diesen mechanischen Vorgang zu durchbrechen und zu echten musikalischen Aussagen zu kommen?
An erster Stelle kommt bei mir immer die innere Vorstellung. Wie stelle ich mir den Klang vor? Soll ein Akkord dunkel, brillant, geheimnisvoll oder strahlend wirken? „Bilder“ sind vielleicht das falsche Wort dafür. Es geht darum, das Herunterdrücken der Tasten soweit wie möglich vergessen zu machen und mir stattdessen Charaktere vorzustellen. Wichtig ist, dass das innere Ohr immer voraus hört, was es sich als nächstes wünscht. Ich beobachte bei manchen Pianisten, dass die Bewegung zuerst kommt. Jetzt drücke ich meinen vierten Finger nach unten und dann kommt irgend ein Klang raus. Das ist natürlich einfacher, aber auch banaler, weil das klangliche Ergebnis dadurch flach bleibt und nicht wirklich eine innere Vorstellung transportiert wird. Hier muss ich nochmal auf den Erfahrungsgewinn durch das kammermusikalische Musizieren zurück kommen: Man hört im Spiel mit anderen eine Linie und Phrase in einer anderen Klangfarbe. Es geht darum, sich inspirieren zu lassen auf dem eigenen Instrument.
Ich als interessierter Hörer finde es immer faszinierend, wie unterschiedlich derselbe Flügel unter verschiedenen Spielern klingen kann. Gibt es weitere Erfahrungen, von denen Sie in dieser Hinsicht profitieren?
Ich setze mich gerne mit diesem Prozess auseinander, wenn ich beispielsweise in einer Jury sitze. Wie schafft es jemand, eine innere Vorstellung auszudrücken, damit sie im Saal spürbar wird? Das Konzipieren einer musikalischen Botschaft, das Entwickeln einer Vorstellung im Kopf hat sich bei mir auch aus dem Unterrichten heraus entwickelt. Wie formuliere ich es und gebe es weiter? Unterrichten hat mir vieles bewusst gemacht, was vorher noch nicht so scharf fassbar gewesen ist.
Zum Abschluss noch eine philosophische Frage: Wir setzen uns hier gerade mit Musikgeschichte auseinander, tun dies aber in der Gegenwart, egal ob als Hörer oder Interpret. Wie definieren Sie Ihre Vermittlerrolle?
Wer in ein Konzert geht, rahmt damit gewissermassen die Zeit mit einem Goldrahmen ein. Eine so erlebte Zeit bekommt einen Wert zurück, der im Alltag meist nicht mehr spürbar ist. Musik ist Kunst in der Zeit, anders als etwa bildende Kunst, wo die Betrachtungszeit selber gewählt werden kann. Eine Aufführung wirkt nur dann, wenn man einen bestimmten Zeitraum da sitzt und zuhört. Es gibt hier keine Abkürzung. Ich möchte hier gewissermaßen zu einer Zeit-Reise einladen.
CD:
Benjamin Engeli
Brahms
ARS Produktion 2018