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BAYREUTH/ Markgräfliches Opernhaus: CARLO IL CALVO. Das Opernwunder von Bayreuth

Dr. Ingobert Waltenberger

06.09.2020 | Oper, Oper international


Max Emanuel Cencic, Franco Fagioli. Foto: Falk von Traubenberg

BAYREUTH/ Markgräfliches Opernhaus: CARLO IL CALVO, 5.9.2020

 

Das Opernwunder von Bayreuth

 

Nach fünf Stunden Opera seria bester neapolitanischer Schule sind die barocken Wonnen zu Ende. Jubel, Bravos ohne Ende. Fast konnte einer glauben, dass das Haus voll war, so dankbar und enthusiastisch reagierte das Publikum auf einen szenisch und musikalisch denkwürdigen Abend. Es war die zweite Aufführung von Nicola Antonio Porporas „Carlo il Calvo“, 1738 am führenden Opernhaus Roms, dem Teatro delle Dame, uraufgeführt.

 

Nein, nicht auf dem Grünen Hügel ereigneten sich im zu Ende gehenden Sommer 2020 Ovationen, Zeichen und Wunder. Das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth, ein angemietetes Museum, beherbergte die erste Co-Produktion des Bayreuth Baroque Opern Festivals mit Parnassus Arts Productions. Die Veranstalter hatten Courage und Weitsicht genug, den Spielplan mit dieser szenischen Mammutproduktion trotz aller Corona-bedingten Unsicherheiten (Fallzahlen, häufig wechselnde amtliche Verfügungen) und Schwierigkeiten (ökonomisches Kalkül; dürfen die Stars aus Risikogebieten anreisen?) durchzuziehen. 

 

Ich gebe zu, ich war nach der 350 km langen Autofahrt von Berlin matt und dachte, das stehst du nie durch. Es sollte anders kommen. Die erste positive Überraschung war, dass im Zuschauerraum keine Maske nötig war, wie dies im Vorfeld mehrfach angeklungen war. Die zweite gute Nachricht, es gab zwar im Haus selber keine Getränke und sonst nix, dafür hatten Findige auf dem Platz vor der Oper einen Stand mit Erfrischungen aufgebaut. Die zwei Pausen waren damit gerettet. 

 

Um 18h ging es pünktlich los. George Petrou als Dirigent und Cembalist trat vor das Originalklangensemble Armonia Atenea. Er musizierte schwungvoll, klanglich differenziert, mit der Eleganz und der Wendigkeit eines Florettfechters. Das Team Cencic, Petrou ist ja in Sachen Porpora durchaus eingespielt, hatten die beiden bereits eine Porpora Arien-CD bei DECCA eingespielt. Nun war die Ausgrabung und moderne Erstaufführung der Oper „Karl der Kahle“ dran. Ein barockes Monster in drei Akten und vierunddreißig Szenen. Das bedeutet eine unendliche Abfolge von Rezitativen und Arien, kurzen Orchesterzwischenspielen und einem einzigen Duett. Dio mio, wie kann da die Spannung durchgehalten werden?

 

Max Emanuel Cencic, nicht nur das künstlerische Herz des gesamten Festivals, sondern auch Regisseur der Oper „Carlo il Calvo“ und noch dazu der Sänger der Hauptpartie, des Lottario, hat die einzelnen Szenen samt bis zu 10 Minuten langen Arien dramatisiert. Er hat die im Mittelalter angesiedelte historische Geschichte in die Goldenen Zwanziger Jahre verlegt, und zwar nach Südamerika. Auf einer durch Urwaldfeuchtigkeit herabgekommenen Hacienda spielt sich das Drama um zwei verfeindete Gruppen eines kriminellen Clans ab. Dabei ergänzt Cencic die sieben Hauptrollen der Oper um eine umfangreiche Statisterie, vom denen jede/r Mitglieder der Großfamilie mit starkem Eigenprofil verkörpern. Mir diesem genialen Trick kann Cencic rund um die da-capo Arien kleine Geschichten bauen, die vorzüglich funktionieren und kurzweilig sind. Da wird jede Szene in der Ästhetik von TV-Gangsterserien (z.B.: 4 Blocks) film- und actionreif in Szene gesetzt. Dabei spannt er einen schlüssigen dramaturgischen Bogen vom Tod des ersten „Paten“ Ludwig bis zu Lottarios spiegelbildlichen Tods am Ende der Oper. Nur Carlos vielleicht  gar nicht so demente Oma im Rollstuhl (Eleni Tzortzi gebührt für ihre kurzen Einlagen ein Sonderpreis) lacht sich über das Verscheiden der Bosse schief. Tja, der Hohn sitzt:  Lohnt sich ja vielleicht doch nicht so wirklich das ganze Machtgerangel, der Sensenmann hat wohl seine eigenen Ideen von Recht und Ordnung.

 

Natürlich gibt es zwei große Liebesgeschichten: Adalgiso, der Sohn Lottarios ist in Gildippe, zweite Tochter Giudittas, verliebt, während Giudittas Tochter Eduige mit dem Anwalt der Familie, Berardo, schäkert. Klar, dass die Liebenden direkt zwischen die unversöhnlichen Fronten Lottarios und  der Stiefmutter Giuditta geraten. Erst am Schluss bekommen sich die Richtigen.

 

Auslöser der ganzen Familienfeindschaften ist ein Erbfall: Kaiser Ludwig der fromme heiratete nacheinander zwei Frauen: Irmgard und Giuditta. 817 n.C teilte er sein reich und machte seinen Erstgeborenen Lottario zum Mittkaiser. Auf Betreiben seiner zweiten Frau revidierte er zwölf Jahre später sein Testament und setzte seinen und Giudittas sechsjährigen Sohn Karl zum Herrscher über Gebiete ein, die er Lottarios Erbe entzog.  

 

Cencic nutzt das ganze Arsenal der in Hollywood und TV-Industrie aus Drogen- und Clanmilieu destillierten Klischees: Sex and crime sells. Dabei liegen tödlicher Ernst und Klamauk, Pathos und herzergreifende Innigkeit wie in Quentin Tarantinos Meisterwerken eng beieinander. Ironie und Wirklichkeit fließen zu kunstvoll arrangierten Tableaus zusammen, deren Wirkung nicht zuletzt den großartig-detailreichen, realistischen Bühnenbildern (Giorgina Germanou) und den elegant-verruchten Kostümen (Maria Zorba) zuzuschreiben ist.

 

Da wird geballert und mit Pistolen gefuchtelt, gelogen, des Ehebruchs bezichtigt, verleumdet, gedroht, der kleine Carlo entführt, der Treue versichert und das Versprechen in der nächsten Sekunde aufgekündigt, stets mit der coolen Tschik im Mundwinkel. Max Emanuel Cencic als machtbesessener, alter Pate Lottario stützt Körper und die Last der Verantwortung auf einen eleganten Stock, die blonde Perücke hat er sich wohl bei Heino abgeschaut. Fünf Arien hat er zu singen. Die erste im zweiten Akt, ein langes Lamento, ist ein grandioses Manifest sängerischen Könnens und eherner Gesangstechnik. Seit fast 40 Jahren auf der Bühne, das bronzene Timbre frisch wie am ersten Tag und keine Abnutzungserscheinungen (kleinere Einbußen beim Volumen und eine gewisse Vorsicht in der hohen Lage mal ausgenommen), das ist ebenfalls unter Wunder zu verbuchen. 


Foto: Falk von Traubenberg

 Rund um Cencic ist eine vorzügliche, junge Besetzung am Werk. Allen voran die Russin Julia Lezhneva, die schon bei der CD-Aufnahme von Porporas „Germanico in Germania“ (Cencic, Sancho, Nesi, Idrisova) mitgewirkt hat, in der Rolle der Gildippe. Mit einem instrumental luxuriösen Timbre im Stile Victoria del los Angeles‘ gesegnet, zündet sie neben den „empfindsamen“ Arien ein Feuerwerk an Koloraturen, Trillern, Fiorituren und was es da sonst noch an barockem Zierrat geben mag. All das in einer spielerischen Leichtigkeit und Präzision, dass dem Publikum der Atem stockt. Höchste Gesangskunst und Raffinement, unprätentiös dargeboten. Ihr Lover Adalgiso (the good guy im Stück) wird vom argentinischen Countertenorstar Franco Fagioli gesungen. Die Arien dieser Farinelli Rolle sind technisch so schwer, dass es einen wundert, dass überhaupt irgendein menschliches Wesen damit zurecht kommt. Es sei nicht verschwiegen, dass sich Fagioli am Anfang hart plagt, die Stimme in der Mittellage ausufernd tremoliert und der permanente Überdruck irritiert. Nur die stupende Höhe springt sofort an. Besser einsingen wäre vielleicht keine schlechte Idee. Aber spätestens im zweiten Akt hat auch Fagioli wieder die gewohnte Fallhöhe erreicht. Das Liebesduett mit Lezhneva ist ein Hochamt an Legatokunst und sängerischem Ausdruck, auch szenisch überzeugt und rührt die zart intime Liebesszene.

 

 Die sehr junge französische Sopranistin Suzanne Jerosme bringt für die gar nicht so junge Gestalt der Giuditta, Carlos Mutter, eine beträchtliche stimmliche und darstellerische Autorität auf die Bühne. Vor allem die substanzreiche Mittellage und die klar ansprechenden Höhen entzücken. Auch darstellerisch agiert Jerosme in jeder Sekunde filmreif. Ihr Sohn Carlo, also die Titelfigur, hat in der Oper gar nichts zu singen. Alvertos Kalogeropoulos stellt aber diesen in der Regie zuerst invalid gezeichneten Jungen (Poliostützen an den Beinen, ein weißes Brillenglas) mit so viel Natürlichkeit und glaubhaft dar (immerhin wird ihm im dritten Akt von Lottario lange das Messer an die Kehle gesetzt und mit dem Tod gedroht), dass ihm ebenso eine Palme für diese außerordentliche Leistung gebührt.  

 

Superlative gehen auch an Bruno de Sà, der als Sopranist in die Rolle des Machoschuftes Berardo schlüpfen darf. Der Sänger begeistert mit apartem Timbre, einer unglaublichen Leichtigkeit der Tongebung, einer enormen Musikalität und himmlisch lyrischen Phrasen. Wer nicht hinschaut, errät  sicher nicht, dass da keine Frau singt.  Asprando, Giudittas Bodygard, ist mit dem aufstrebenden tschechischen Tenor Petr Nekoranec erstklassig besetzt. Bei Supraphon ist kürzlich seine erste Arien CD mit französischem Repertoire erschienen. Dem blendend aussehenden Künstler ist eine steile Karriere vorherzusagen, zumal die Stimme perfekt in der Maske sitzt und er die Stimme frei fließen lässt. Die Diktion ist einwandfrei und erst das hohe C… Ob er ein tschechischer Pavarotti wird, als den ihn jetzt schon manche bejubeln, das wird man sehen. Last but not least ist die Mezzosopranistin Nian Wang als Eduige zu nennen. Auch sie verfügt über ein ansprechendes Timbre, die Gesangstechnik ist tadellos. Von Ausstrahlung und Bühnenpräsenz könnte sie noch zulegen.

 

Insgesamt ist dieser Abend nicht nur künstlerisch ein großes Ereignis, von dem jedes einschlägige Festival nur träumen kann, sondern markiert eine Pionierleistung in der von Corona so geschüttelten deutschen Musikszene. Während in Berlin die Opernsaison in der Deutschen Oper mit pausen- und belanglosen 90 Minuten Best of- Abenden von Aida und La Gioconda startet, zeigen Max Emanuel Cencic und sein Team in Bayreuth, wie es auch anders funktionieren kann, und das trotz der speziell in Bayern nicht gerade zimperlichen Sicherheitsmaßnahmen.  Bravo!

 

 Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

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