Bayreuth. PARSIFAL
30. Juli 2025
LEIDEN UND GRÖSSE
Das Zauberweib Kundry steht in jedem Fall im Mittelpunkt von Jay Scheibs Inszenierung. Es ist auch eine Vorstellung der Hexe aus männlicher Perspektive. Kundrys Erscheinung wandelt sich hier immer wieder. Sie schlüpft in unterschiedliche Rollen, ist aber auch anpassungsfähig. Die weiträumige Bühne von Mimi Lien stellt die Gralsgemeinschaft durchaus in den Mittelpunkt. Man begreift, dass sie das Problem hat, langsam auszusterben. Eine Überlebensstrategie muss gesichert werden. Die Kostüme der Gralsritter von Meentje Nielsen werden hier mit Camouflage in Verbindung gebracht. Aus Existenzangst werden die Gralsritter immer radikaler. Parsifal platzt hier wie ein tumber Tor hinein. Die ewig blutende Wunde des Amfortas wird im großen Videoausschnitt von Joshua Higgason in schmerzhafter Direktheit gezeigt. Die Gralsritter sind hart zu Amfortas. Insgeheim sehnen sie sich nach einem faschistischen Anführer. Und man denkt hier bei Amfortas und Parsifal auch an Richard Wagner selbst, an sein Leiden und seine Größe (um mit Thomas Mann zu sprechen). Diese Tatsache kommt in keinem Werk Wagners so stark zum Ausdruck wie im „Parsifal“. Bei Jay Scheib wehren sich die Gralsritter gegen die Veränderung, sie halten krampfhaft am Bestehenden fest. Dabei zieht sich das Wasserthema durch alle drei Aufzüge und wird in die Kostüme des Chores im dritten Akt eingewoben. Am Ende landet der Zuschauer zwischen einem panzerartigen Wagen und einer rund-glitzernden Scheibe an einem toten Ort – man denkt tatsächlich ganz entfernt an Science fiction. Strahlenartige Lichteffekte verstärken diesen Eindruck. Kundry wird hier mit der schwedischen Malerin Hilma af Klint in Verbindung gebracht. Sie trägt im dritten Aufzug einen Pullover mit zwei Schwänen, die sich wie Licht und Finsternis gegenüberstehen. Kundry ist die ganze Zeit unterwegs, sie ist ruhe- und rastlos. Schwarz-weiße Kontraste werden dann im zweiten Akt verwischt, der aufgrund seiner großen Bildkraft am meisten überzeugt. Die Farbe Lila besitzt hier eine dämonische Aura, der Zauberer Klingsor bewegt sich lemurenhaft in einer riesigen Felsspalte. Die „Höllenrose“ Kundry scheint in den Blumenmädchen viele unheimliche Doppelgängerinnen zu besitzen, die Parsifal in einem fast surrealistisch bunten Garten verführen. Nebel-Effekte verstärken zuweilen den Eindruck des Überirdischen, Nicht-mehr-Greifbaren, das sich dem Zuschauer ganz langsam entzieht. Das Mystische und Unergründliche könnte bei dieser Inszenierung im dritten Akt manchmal noch stärker zum Ausdruck kommen. Musikalisch kann dieser „Parsifal“ ebenfalls sehr stark überzeugen. Der Dirigent Pablo Heras-Casado durchleuchtet mit dem Bayreuther Festspielorchester Themen und Leitmotive akribisch, trotz aller harmonischen Schlichtheit leuchtet die Welt des Grals in den schillerndsten Farben der Diatonik. Selbst in den großen Chorszenen faszinert immer wieder die sakrale Sinnlichkeit dieser Musik mit ihrer unerschöpflichen Leuchtkraft. Es ist eine großartige Leistung des Bayreuther Festspielchores. Diese überschwängliche Emphase überträgt sich vor allem auf den grandiosen Parsifal von Andreas Schager, dessen tenorale Kraftreserven an diesem Abend einmal wieder unerschöpflich sind. Mit melodischer Leidenschaft lässt Pablo Heras-Casado Richard Wagner im überirdisch musizierten „Karfreitagszauber“ sprechen. Michael Volles Amfortasklagen sind wahrhaft herzzerreissend, rühren an die letzten Fragen der Existenz. Georg Zeppenfeld als Gurnemanz berührt mit seinem klangfarbenreichen, wandlungsfähigen Bass als Gurnemanz ebenfalls in bewegender Weise letzte Fragen. Jordan Shanahan zeigt als Klingsor das Triebhafte, Nicht-mehr-zu-Beherrschende dieser Figur in faszinierenden Facetten. Überaus farbenreich und leidenschaftlich ist die subtile Darstellung von Ekaterina Gubanova als Kundry, die bei der Passage „Ich sah – Ihn – Ihn – und – lachte…“ das hinabstürzende Intervall durch fast zwei Oktaven vom hohen H bis hinunter zum Cis mit unglaublicher Leichtigkeit und tragischer Größe zugleich bewältigt! Dadurch gewinnt diese zentrale Rolle eine neue Sichtweise. Tobias Kehrer als Titurel unterstreicht schauerlich die vergangene Macht des früheren Königs. In weiteren Rollen überzeugen Daniel Jenz, Tijl Faveyts (erster und zweiter Gralsritter), Lavinia Dames, Margaret Plummer, Gideon Poppe und Matthew Newlin (erster, zweiter, dritter, vierter Knappe), Evelin Novak, Catalina Betucci, Margaret Plummer, Victoria Randem, Lavinia Dames und Marie Henriette Reinhold als fulminant-verführerische Blumenmädchen sowie das intensive Altsolo von Marie Henriette Reinhold. Der Weg zum Mythos wird hier schon im Vorspiel deutlich vorgezeichnet. Das As-Dur und die dunklen B-Tonarten werden geradezu sphärenhaft ausgeleuchtet, das Gralsmotiv erstrahlt ausdrucksstark in Trompeten und Posaunen. Der punktierte Rhythmus unterstreicht bei dieser konzentrierten Interpretation nicht nur den Herrschaftsanspruch der Gralsritter, sondern auch das Schicksalhaft-Unlösbare in ergreifender Weise. Die Heilandsklage im zweiten und die wilden Selbstanklagen Parsifals im dritten Akt setzen bei dieser Aufführung weitere wichtige Akzente, wobei das herabstürzende Kundrymotiv fast einen Gegenpol zum mystischen Abgrund bildet. Ovationen, Jubel, „Bravo“-Rufe.
ALEXANDER WALTHER