Giacomo Puccini: La Bohème, Theater Basel, Vorstellung: 18.12.2019
(2. Vorstellung seit der Premiere am 14.12.2019)
Die Poesie der Gegenwart
Daniel Kramer hat für das Theater Basel Puccinis unverwüstliches Meisterwerk erfolgreich in die Gegenwart geholt. Geprägt wird die Inszenierung von Tannenbäumen und einem Fünfzigerjahre-Bau (Bühne: Annette Murschetz), der den Künstlern, die in der Gegenwart kaum noch Platz haben, als Refugium dient.
Für Kramer steht der Tannenbaum im ersten Bild für die immergrüne Hoffnung, im zweiten Bild, künstlich und prall geschmückt, für das, was man gern gehabt hätte. Die abgestorbenen Tannenbäume im dritten Bild, nun wieder echt, für die Realität und jene des vierten Bildes, junge Tannen in einer No-Go-Area für den Kreislauf des Lebens und, im Sinne einer neuen Hoffnung, die Durchsetzungskraft der Kunst.
©Priska Ketterer
Im ersten Bild leben die Künstler in einer Art Hinterhof und haben sich mit Autoreifen, einem leeren Fass und altem Baumaterial eingerichtet. Im zweiten Bild wurde gleich neben das Café Momus im Altbau ein monumentaler, moderner Bau mit schwarzer Glasfassade gebaut. Davor ein monströser, kitschig geschmückter Tannenbaum und das Traumauto der Masse auf dem ständig rotierenden Präsentierteller. Diese Masse, der Chor, ist, als Zeichen der Konsumsucht, der sie unterliegt, uniform schwarz gekleidet. Die zahlreichen Einkaufstaschen in grellen Farben setzen Akzente. Die Gentrifizierung, etwas Kapitalismus-Kritik muss ja schliesslich sein, schreitet fort. Im dritten Bild dient der Fünfzigerjahre-Bau nur noch als Lager einer in Containern untergebrachten Disco. Ein paar Backsteine sind aus den zugemauerten Fenstern gebrochen, so dass Mimi hier geschützt die Unterhaltung zwischen Marcello und Rodolfo beobachten kann. Und für den Schluss gelingt Kramer hier das stärkste Bild der Inszenierung. Die Grenze markiert hier den Warteraum für den Einlass in die Disco und ist als grüner Strich auf den Boden und die Wand projiziert. Nach dem Abschied fassen sich Mimi und Rodolfo an den Händen und laufen dem Strich entlang nach hinten – jeder auf seiner Seite. Besteht Hoffnung, dass sie wieder zusammen kommen? Im vierten Bild haben sich die vier Künstler in einer No-Go-Area mit den Trümmern aus einem umgestürzten Auto eingerichtet. Die Glitzerfassade des Gebäudes aus dem zweiten Bild ist mit einem portalfüllenden Tuch mit dem Graffito einer Madonna verhängt. Mimi, hier hebt Kramer in Zeiten der Genderdebatte den moralischen Finger, hat nicht mehr die Schwindsucht sondern Brustkrebs.
©Priska Ketterer
Wenn Kramer die Umbaupausen auch noch mit moderner Musik, und sei sie von führenden Köpfen der Soundtrack-Branche (Klangkomposition Sounds der Boheme: Marius de Vries und Ben de Vries) komponiert, glaubt füllen zu müssen, ist das definitiv zu viel, denn er widerspricht sich ein Stück weit selbst, wenn er diese Musik als Lückenfüller, wie Kaufhaus-Musik verwendet. Etwas unaufmerksam war die Regie am Ende des ersten Bildes: Wenn Rodolfo zu Mimi sagt, er könne ihre Kerze nicht mehr anzünden, weil er kein Feuer mehr habe, sollten im Fass auch keine Flammen zu sehen sein. Nicht ganz schlüssig sind auch die Übertitel: mal wird eine Übersetzung verwendet, die auf die Inszenierung eingeht, mal verwendet man eine klassische Übersetzung. Dass Mimi im 3. Bild nicht mehr »Flittchen» genannt wird, ist wohl übertriebene Political Correctness.
Die Dirigentin Kristiina Poska und das Sinfonieorchester Basel stecken die Beeinträchtigungen durch die Musik zwischen den Bildern so gut es geht weg: die Einsätze erfolgen messerscharf und dann wird ein entschlackter, leicht unterkühlter Puccini zu Gehör gebracht.
Cristina Pasaroiu als Mimì braucht gut zwei Bilder, bis sie sich warmgesungen hat. Während anfänglich noch grelle Höhen und ein starkes Vibrato dominieren, gelingt ihr dann im vierten Bild ein eindrücklicher Abschied. Ganz im Sinne der Regie nicht als Opfer, sondern, soweit das unter diesen Umständen überhaupt möglich ist, selbstbestimmt. Valentina Mastrangelo gibt eine Musetta als Powerfrau und gleichwertigen Part der On-Off-Beziehung, die sie mit Marcello führt. Der Rodolfo von Davide Giusti überzeugt mit tenoralem Schmelz und Sentiment. Domen Križaj gibt mit seinem satten Bariton einen kräftigen, dominanten Marcello. Gurgen Baveyan (Schaunard) und Paull-Anthony Keightley (Colline) machen dezent klar, dass sie der Regisseur in seiner Inszenierung als Paar sieht. Alexander Vassiliev (Benoît/Alcindoro), Donovan Elliot Smith (Parpignol), Eckhard Otto (Sergente di Doganieri) und Martin Krämer (Doganiere) ergänzen das Ensemble.
Trotz aller Defizite ein lohnenswerter Besuch!
Weitere Aufführungen (jeweils Grosse Bühne):
Fr 27. Dezember 2019, 19h30–21h45, Di 31. Dezember 2019, 19h30–21h45,
So 12. Januar 2020, 18h30–20h45, Mo 27. Januar 2020, 19h30–21h45,
So 16. Februar 2020, 16h00–18h15, Di 18. Februar 2020, 19h30–21h45,
Do 20. Februar 2020, 19h30–21h45, Mo 24. Februar 2020, 19h30–21h45,
So 08. März 2020, 18h30–20h45, So 15. März 2020, 18h30–20h45,
Sa 21. März 2020, 19h30–21h45, Sa 28. März 2020, 19h30–21h45,
Mi 01. April 2020, 19h30–21h45, Mi 15. April 2020, 19h30–21h45,
Sa 18. April 2020, 19h30–21h45, Sa 25. April 2020, 19h30–21h45,
Do 30. April 2020, 19h30–21h45, Sa 02. Mai 2020, 19h30–21h45.
18.12.2019, Jan Krobot/Zürich