„DIE MÖWE“ von Anton Tschechow im Schauspielhaus Basel, 20. September 2013
1895 schrieb Anton Tschechow an seinen Verleger Alexander Suworin: `Mein Stück ist schon vor der Aufführung durchgefallen. Diese Voraussage stimmt für Basel sicher nicht:
„Bringen Sie Irina Nikolajewna weg. Die Sache ist die: Konstantin Gawrilowitsch hat sich erschossen.“ Blackout nach den Schlussworten von Dorn und Totenstille im Zuschauerraum.
Nach dem Schweigemoment für ein grossartig inszeniertes Schauspiel des grossen Dramatikers belohnten die Besucher im fast ausverkauften Schauspielhaus alle Mitwirkenden mit donnerndem Applaus.
Der ungarische Regisseur und Bühnenbildner Viktor Bodo hat die Möwe mit Textgenauigkeit subtil in Szene gesetzt. Tschechow hat im Text klare Angaben für Pausen, Sprechpausen gemacht. Diese wurden optimal eingehalten, so dass die psychologisch-emotionellen Eigenheiten des Werkes klar zum Ausdruck kamen. Bodo’s Regie zeichnet sich durch eine ruhige, dem Text entsprechende Personenführung aus. Trotzdem die Möwe aus dem 19.Jahrhundert stammt, sind Bezüge zu unserer heutigen Kommunikationsgesellschaft gut zu erkennen: Wir halten oft Mono-loge, auch wenn wir uns scheinbar mit einem Gegenüber unterhalten.
Das Bühnenbild, auch dafür zeichnet Viktor Bodo verantwortlich, unterstützt die Arbeit der Protagonisten optimal und ist in seiner einfachen Mehrteiligkeit bestens an die Handlung angepasst.
Die vier Akte werden durch Schattenspiele ohne Pausen unterteilt. Diese Wechsel werden untermalt mit Musik von Klaus von Heydenaber, gespielt an der Violine durch Nitzan Bartana und am Klavier von Heydenaber.
Ariane Andereggen als Irina Nikolajewna Arkadina spielt ihre Rolle als egozentrische Schauspielerin überzeugend. Ihre emotionellen Ausbrüche wirken aufgesetzt. Dies entspricht der Auffassung Tschechows. Julian Hackenberg überzeugt als Trepljow mit all seinen unterschiedlichen Gemütslagen. Sehr berührend sein Dialog, wirklich ein Dialog, mit Nina im vierten Akt und seine anschliessende Resignation, welche im Zerstören seiner sämtlichen Manuskripte (verflogen im Wind) ihren Ausdruck findet. Vincent Leittersdorf als Sorin bringt sehr viel komödiantenhaftes ins Spiel und beherrscht, sooft er auf der Bühne erscheint, die ganze Szene. Seine Ironie, Selbstironie ist glaubhaft und unterstreicht die Begabung Leittersdorf’s. Joanna Kapsch lebt ihren Part als Nina Michailowna Saretschnaja und berührt in ihren ekstatischen Ausbrüchen im ersten Akt und ihrer Verzweiflung im vierten Akt. Claudia Jahn als Polina spielt ihre Rolle als Hausfrau klar und definiert, sie kann aber auch Emotionen zeigen: ‚Ich bin ja so eifersüchtig‘. Die Unterdrückung durch Ihren Mann, Ilja Afanasjewitsch, wirkt glaubhaft. Dieser etwas militärisch/grobe Schamrajew, Leutnant a.D. wird bestens interpretiert durch Christian Heller. Mascha, gespielt von Inga Eckenmeier hat gute Momente, wirkt aber hie und da ein bisschen zu burschikos. Sie reift allerdings im Spiel und überzeugt im vierten Akt im Dialog/Monolog mit Ihrem Mann, dem Lehrer Semjoni Semjonowitsch Medwedenko sehr gut interpretiert durch Frederik Göke. Gabor Biedermann als Trigorin spielt den erfolgreichen, aber unglücklichen Schriftsteller glaubhaft. Sein Dialog mit Nina im zweiten Akt kommt als wirklicher Dialog daher. Dies war vermutlich auch Tschechow’s Intention. (Im Text dieses Dialogs fehlen die Tsche-chowschen „Pausenzeichen“ weitgehend.) Boris Alexejewitsch’s Dialoge/Monologe mit Arkadina dagegen wirken, speziell von Irina her, als die Selbstdarstellung einer Schauspielerin, welche sich immer auf der Bühne wähnt. Der Arzt und Amateurphilosoph Jewgenij Sergejewitsch Dorn, gespielt durch Florian Müller Morungen, brachte oft Ruhe in die erregten Diskussionen der anderen Protagonisten.
Die Tschechow’schen Dramaturgie wurde durch Viktor Bodo und die beiden Dramaturginnen, Anna Veress und Bettina Ehrlich durch die ganze „Möwe“ konsequent beibehalten.
Das gesamte Ensemble überzeugte durch seine Leistung vor allem dadurch, dass nicht nur der Text den Kopf beschäftigte, sondern auch die Emotionen der Zuschauer angeregt wurden . Dies zeugt für hohe Schauspielkunst.
In einem Interview drückt dies Calixto Bieto folgendermassen aus: Im Musiktheater werden die Emotionen zum grossen Teil durch den Gesang, die Musik des Komponisten geweckt. Im Sprechtheater müssen die Schauspieler mit ihrer Kunst die Musik sozusagen „komponieren, das heisst, sie müssen fähig sein, Emotionen durch Schauspielerei und Textinterpretation anzuspre-chen.
Fazit in der Möwe: Trotz aller Ereignisse ändert sich für das Individuum nichts. Ausnahme Trepljow: Er ist tot!
Fazit für das Publikum: Danke für einen fantastischen Abend im Schauspielhaus Basel!
Peter Heuberger