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BADEN-BADEN: „PATRICIA KOPATCHINSKAJA – BERLINER PHILHARMONIKER – KIRILL PETRENKO“


Foto: Monika Rittershaus

Baden-Baden: „PATRICIA KOPATCHINSKAJA –  BERLINER PHILHARMONIKER –

                         KIRILL PETRENKO“  –  15.04.2019

Gleich eines Paukenschlags eröffnete das Festspielhaus seine konzertanten „Osterfestspiele 2019“ mit den Berliner Philharmonikern welche ohnedies das immense Programm mit wechselnden Dirigenten bewältigen. Am Pult waltete der designierte Chefdirigent des Orchesters Kirill Petrenko, wie man im Verlauf des Abends auf beglückende Weise erleben durfte war es sicherlich die beste Wahl der Philharmoniker diesen außergewöhnlichen Dirigenten zu ihrem Chef zu küren.

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja war zu Gast mit dem expressiven „Violinkonzert“ von Arnold Schönberg. Wenn der Tonsetzer gar selbst die Äußerung fallen ließ, dass das Zwölftonsystem „Privatsache des Komponisten“ sei, hatte nicht als Theoretiker, sondern als Komponist gesprochen, welcher vom sich Zurechtfinden im neuen Heim seiner Musik in Anspruch genommen, sich von jedem eingehenden Verallgemeinern fernhalten wollte. Dank der inzwischen gewonnenen Zeitperspektive wird ziemlich unbefangen bemerkt: Das Zwölftonsystem ist die Tonalität selbst in einer neuen Phase ihrer Entwicklung.

Nach wie vor erscheint jedoch diese Musik nicht in allen Ohren Zutritt, ich muss gestehen mein Gehör empfand sie zwar interessant aber keineswegs schmeichelhaft. Einige empfindsame Konzertbesucher verließen wohl deshalb auch vorzeitig den Ort des Geschehens. Gewiss streichelte ich öfters den Hundekopf meines Gehstocks beruhigend, damit er nicht aufjaulte – aber nun im Ernst und Spaß beiseite, dachte ich so manchmal melodische Konzerte kann fast JEDER spielen, jedoch ein derart extrem-komplexes Werk in brillanter Formation zu präsentieren, das ist die absolute hohe Kunst.

Mit welcher Emphase, fein filigraner Spieltechnik eröffnete Patricia Kopatchinskaja die ersten Takte des Sonatensatzes des poco allegro, die Expositionen der Reihe verschiedenartiger Tonika-Wiederholungen. Ob im folgenden Andante oder dem weitläufigen finalen Allegro zur höchst virtuosen Kadenz, welche in ungeheuer komplexem Tonansatz erklang, die extravagante und charismatische Künstlerin verstand es zu fesseln nicht nur zu barfüßigen Sprüngen, rhythmisch-grazilen Bewegungen oder energischem Stampfen und mimischer Pointierung. Nein vielmehr verstand es die exzellente Geigerin mit eruptiven Tönen, die expressiven Strukturen, die ungewöhnliche Fraktur dieser Komposition experimentell in brillanter, tontechnischer Variation und bestechender Akkuratesse auszuloten.

Derart konstruktive Freisetzung von Zwölftonreihen im Mikrokosmos heftigster Energien fand auch im in den Reihen der Berliner Philharmoniker unter der famosen umsichtigen Leitung von Kirill Petrenko eindrucksvollen Wiederhall und vortreffliche instrumentale Begleitung.

Die publikumswirksame Resonanz bedankte die gefeierte Künstlerin, inzwischen wieder in die Schuhe geschlüpft unterstützt vom Klarinettisten Andreas Ottensamer mit dem kurzen musikalischen Spaß Jeu aus der „Suite op. 157b“ (Darius Milhaud).

Nach der Pause erlebte ich einen meiner Komponisten-Favoriten Peter I. Tschaikowsky völlig neu und wähnte die „Fünfte Symphonie“ nach unzähligen Malen während der letzten Jahrzehnte „erstmals“ zu hören! Wie in der Vierten liegt auch in der emotionsreichen Fünften der poetische Grundgedanke des Schicksals zugrunde, dessen pathetische Expressionen, welche das Werk eröffnen und von Tschaikowsky selbst als Motiv der vollständigen Beugung vor dem Schicksal gedeutet wurde und in allen vier Sätzen ausdrucksstark wiederkehren.

Leise, versonnen, wie aus einer anderen Welt empor getragen ließ Kirill Petrenko das motivische Thema des Andante – Allegro con anima von den Klarinetten in tiefer Lage angestimmt erklingen. Der versierte Dirigent nahm dem Satz in sensibler Artikulation die sonst gewohnte Schwere, ließ schier anmutig aufspielen und steigerte sich allmählich mit dem prächtig aufblühend musizierenden Berliner Eliteorchester in jene bedeutungsvollen Strukturen schwerblütiger Klangfülle.

Sehnsuchtsvoll, elegisch zum Weinen schön erhob sich das traumverlorene Horn-Solo welches das romantische Andante cantabile einleitete. Die Violinen schwelgten, die Holzbläser formierten sich tonschön zur intensiven Entwicklung, schemenhaft steigerten sich nach und nach die Seitenthemen zum Tutti  um im Fortissimo regelrecht zu explodieren. Petrenko beleuchtete formell weiche Konturen, nahm den Ecksätzen die sonst verwendeten Schärfen, setzte zwar zielstrebig Kontraste, kehrte jedoch immer wieder zu beruhigendem Intonieren zurück und im überwältigen Pianissimo klang der Satz aus.

Prägend animierte der Klangzauberer sein qualifiziertes Orchester im Allegro moderato zur choralartigen Einleitung der tiefen Streicher im Wechselspiel der Oboen, Celli und Violinen steigerte sich zu pastoraler Intensität und entwickelte sich drängend zur dramatisch hereinbrechenden Introduktion. Transparent, virtuos, kapriziös erklang die Valse-Melodie des Ecksatzes.

In beschwörender Hymne eröffnete wiederum das Schicksalsmotiv das finale Andante maestoso, in wogenden Triolen repetieren sich Sequenzen, drängend erhob sich der Streichersatz. Drohend erklang der stampfende Marsch, die Holzbläser appellierten das Seitenthema, in spannender voranstürmender Entwicklung entfalteten die Blechfraktionen in akkurat geschmetterten Läufen den Ruf des Schicksals, der komplexe Apparat schien in unbändiger Wildheit zu bersten und strebte in höchst präziser Interpretation, in einem an Brillanz unübertroffenen glanzvollen Trompetenwirbel seinem Finale entgegen.

In einem Aufschrei aus hunderten von Kehlen, Bravostürmen und in überschäumender Begeisterung feierte das Publikum den Maestro und die Berliner Gäste.

Wie schon so oft nach derart nachhaltigen Konzert-Events dachte ich so bei mir: dafür gebe ich gut und gerne jede Menge halbherziger Opern-Aufführungen hin.

Gerhard Hoffmann

 

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