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BADEN-BADEN: MANON LESCAUT – ein beklemmendes Seelendrama

17.04.2014 | KRITIKEN, Oper

„Manon Lescaut“ von Puccini im Festspielhaus Baden-Baden. EIN BEKLEMMENDES SEELENDRAMA. 16.4.2014

Insgesamt beeindruckende Aufführung der „Manon Lescaut“ von Giacomo Puccini am 16. April im Festspielhaus/BADEN-BADEN 

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Hafenszene. Foto: Monika Rittershaus

Von wegen „Verdi des kleinen Mannes“! Sir Simon Rattle und die fulminanten, superb musizierenden Berliner Philharmoniker belehren uns rasch eines Besseren. So samtweich hat man die Streicherpassagen selten gehört. Und auch die Inszenierung von Sir Richard Eyre überrascht das Publikum durch ihre architektonische Kühnheit. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts wird in monströsen Fassaden überzeichnet, im zweiten Akt entführt der Regisseur die Zuschauer in den ebenfalls überdimensionalen Innenraum und im vierten Akt erlebt man ein zusammengestürztes Haus zwischen Steintrümmern und  gespenstischen Lichtfetzen. Der dritte Akt am Hafen in Le Havre wird von einem Schiff beherrscht, das geankert ist und die zur Deportation Verurteilten aufnimmt. Im unteren Teil des Bühnenbildes sieht man ein Gefängnis. Sir Richard Eyre zeichnet die von Eva-Maria Westbroek stimmlich und gesanglich mit wenigen Abstrichen weitgehend überzeugende Manon Lescaut als Getriebene und unglücklich Liebende, die sich von der Aussicht auf Sex und Reichtum verführen lässt. Zum Verhängnis wird ihr die unheilvolle Anziehung durch einen Mann, dem sie zufällig begegnet – nämlich den Studenten Renato Des Grieux, den Massimo Giordano mit Intensität verkörpert. Der Sänger vermag sich im Laufe dieses Abends auch stimmlich erheblich zu steigern. Sir Richard Eyre vertraut bei seiner Inszenierung nicht auf das Rokoko-Ambiente des 18. Jahrhunderts, sondern auf die eindringliche Atmosphäre des „Film noir“ der 30er und 40er Jahre mit ihrer sexuellen Verführung und Gefahr. Überhaupt ist er ein Regisseur, der vom Film geprägt ist. Das wird an diesem Abend immer wieder deutlich. Auch die schnittartige Personenführung zeigt sich davon beherrscht, die stellenweise zu stereotyp und glatt-oberflächlich wirkt. Der erste Akt wird von einer Gruppe Studenten dominiert, die im Frankreich zur Zeit der deutschen Okkupation eine wichtige gesellschaftliche Kraft waren. Sir Richard Eyre sieht Manon Lescaut als eine Frau, deren Unglück es ist, zu sehr zu lieben, was dann im vierten Wüsten-Akt in einer erschütternden Sterbe-Szene gipfelt. Deutlich wird auch, dass sich Des Grieux immer mehr in kriminelle Machenschaften verwickelt: Er betrügt beim Kartenspiel, wird Zuhälter und Dieb, doch Manon Lescaut wendet sich von ihm ab und dem ehemaligen Kämmerer und hohen Steuerbeamten Geronte de Ravoir (facettenreich: Liang Li) zu, um ein besseres Leben führen zu können. Hier erreichen die dramatischen und elektrisierenden Komplikationen der Inszenierung ihren Höhepunkt. Manon weckt immer wieder die Leidenschaften und Begehrlichkeiten anderer Männer. Und als Des Grieux sie heiraten will, zerstört das unerbittliche Gestz und Recht das Glück der beiden. In der weiten Ebene von New Orleans, hier symbolisiert durch eine riesige zusammengestürzte Villa, gehen beide zugrunde, nachdem sie schon zuvor im Gefängnis gelandet sind. Große dramatische Bewegung beherrscht den zweiten Akt mit dem Verhaftungskommando und Manons Festnahme. Die Treppenaufgänge geraten so mit fast alptraumhafter Vergrößerung ins Rampenlicht. Was diese Aufführung aber wirklich zu einem Erlebnis macht, ist die enorme spieltechnische Qualität der Berliner Philharmoniker. Sir Simon Rattle lässt Puccinis Musik hier mit federnd-sphärenhafter Leichtigkeit musizieren, man denkt zuweilen an Puccinis „Chrysanthemen“ und weniger an Wagners „Tristan“, obwohl der immer wieder geheimnisvoll durchschimmert. Grandios ist das flirrende Streicherbett, Tremoli werden minuziös ausgekostet, ungeheuer genau und konzentriert ist die wunderbare melodische Kraft. Gesangslinie und Orchestermotiv finden so ganz zusammen. Das leidenschafliche Orchester-Intermezzo arbeitet Rattle höchst sensibel heraus, man wird in fieberhafter Weise Zeuge von Manons Gefangenschaft und Reise nach Le Havre. Auch die harmonische Ausdruckssteigerung gelingt den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle exzellent. Große Komplexität beherrscht den ersten Akt, in dem verschiedene Handlungsfäden raffiniert zusammengeführt werden, worauf Rattle großen Wert legt. Die lyrische Pause als bewegende Begegnung zwischen Manon und Des Grieux beherrscht die Szenerie suggestiv. Das Scherzo bringt dann die Rückkehr zur äusseren Handlung. Als emotionalen Kern der Oper begreift Sir Simon Rattle dann den zweiten Akt. Ein großer dynamischer Kontrast zwischen den beiden musikalischen Stimmungen bis zum Trennungsstrich nach dem Auftritt von Des Grieux beherrscht hier die Szenerie. In der Intensität der Begegnung zwischen den Liebenden gehen wiederholt brüchige Madrigale und Menuette unter. Sir Simon Rattle lässt den graziösen Rokoko-Zauber einfach verpuffen. Eva-Maria Westbroek gestaltet die berühmte Arie „In quelle trine morbide“ mit samtweichem Timbre und klarer tonaler Höhe ohne falsche Schärfe. Emotionale Klarheit und Unmittelbarkeit werden so in fesselnder Weise erreicht. Das geradezu revolutionäre motivische Neuland des dritten Aktes kommt bei der insgesamt doch packenden Aufführung ebenfalls nicht zu kurz. Der oft als überlang kritisierte vierte Akt in der Wüste wirkt bei der Inszenierung von Sir Richard Eyre und der musikalischen Leitung von Sir Simon Rattle aber keineswegs zu weit ausufernd. Ton und Klangsprache bilden dabei eine überzeugende Einheit. Den Sängern gelingen zusammen mit den Berliner Philharmonikern große Augenblicke.

Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Oper werden so auch in psychologischer Hinsicht differenziert ausgekostet, obwohl manches Detail untergeht. In weiteren Rollen gefallen Lester Lynch als Manons Bruder Lescaut, Bogdan Mihai als Student Edmondo, Reinhard Dorn als Wirt und Kapitän zur See, Magdalena Kozena als Sänger, Kresimir Spicer als Ballettmeister, Arthur Espiritu als Straßenfeger, Johannes Kammler als Sergeant sowie Saulo Garrido als Tangotänzer in einer stummen Rolle. Madrigalisten und Musiker auf der Bühne bieten ebenfalls eine famose Leistung.

Ausgezeichnet ist aber auch der Philharmonia Chor Wien unter der Leitung von Prof. Walter Zeh, er beweist in den Ensembleszenen große Wandlungsfähigkeit und Schlagkraft. Sir Simon Rattle legt bei seinem Dirigat zudem großen Wert auf die konzertanten Elemente und die klangmalerische Eindringlichkeit des harmonischen Geschehens. Das italienische Opernmelos behauptet sich stellenweise mit explosiver Emphase, wie sie für Puccini wichtig und typisch ist. Ausdruckssteigerung wird großgeschrieben. Die überaus bewegliche Rhythmik lässt sich hier in keine starren Metren pressen. Darin erweist sich Sir Simon Rattle als Meister seines Fachs. Er ist als Dirigent aber auch in der Lage, Neues aus Puccinis Musik herauszuhören, ohne sich im harmonischen Überschwang zu verlieren. Insgesamt kann man also sagen, dass es sich bei dieser Interpretation um einen sehr schlank und feingliedrig musizierten Puccini handelt, dem auch die kammermusikalischen Momente nicht fehlen. Bei der Aufnahme von Des Grieux an Bord des Schiffes und seiner überschwänglichen Begrüßung durch Manon gelingen den Berliner Philharmonikern dank Rattle magische Momente. Die Musik besitzt dabei betörenden Glanz und enorme, suggestive Anziehungskraft. Fallende Septimen und chromatische Fortschreitungen beschreiben ausdrucksvoll das Flehen Manons um Vergebung, dem Des Grieux schließlich nachkommt. Der Parlando-Zauber geht nicht unter. Das Bühnenbild von Rob Howell und die Kostüme von Fotini Dimou sowie die nuancenreiche Choreographie von Sara Erde ergänzen sich zwar nicht immer optimal, betonen aber den visuellen Fluss dieser doch sehr sinnlichen Musik, deren Vibrationen und graziöse Verästelungen Rattle auskostet.

Starker Schlussapplaus und Bravo-Rufe.

Alexander Walther 

 

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