AUGSBURG: „Wozzeck“ von Alban Berg – Premiere am 07. März 2015
Daniel Barenboim meinte jüngst, Berg sei „nicht modern, verrückt, komisch, schwer zu verstehen, unzugänglich – aber man muss es regelmäßig hören.“ So weit, so gut. Wer hört ihn regelmäßig? Der Normalverbraucher jedenfalls nicht und so nimmt es nicht Wunder, dass die Werke immer noch und immer wieder “Ausnahmewerke“ [geblieben!] sind, daran ändert auch die Tatsache nichts, dass „Wozzeck“ als so genannter „Klassiker der Moderne“ gilt und heute kaum noch Aufsehen erregt.
Ein Theater wie Augsburg, das 2012 eine damals viel beachtete „Lulu“ herausgebracht hat und im vergangenen Jahr mit Nonos „Intolleranza“ einen wahrhaftigen Triumph startete, der auch starke überregionale Beachtung fand, erscheint der „Wozzeck“ als Neuinszenierung geradezu „normal“ (die letzte Inszenierung des Werkes lief dort 1997). Eigentlich hätte man von Augsburg erwartet, dass, wenn es sich schon dieses Themas erneut annimmt, es einmal den „anderen Wozzeck“ zur Diskussion stellt, den von Manfred Gurlitt, der – übrigens vom gleichen Verlag wie das Werk von Berg – mit den Worten beworben wird, dass es „ganz anders“ sei und – „als Musiktheater vielleicht gar fortschrittlicher“.Übrigens sind beide Werke unabhängig voneinander nahezu zeitgleich entstanden, Bergs Werk wurde 1925 in Berlin, das von Gurlitt1926 in Bremen uraufgeführt – und Gurlitt behauptete noch in den 1960er Jahren, „Bergs Partitur weder gelesen noch gehört zu haben“! Mit der dritten „Wozzeck“-Oper, die es auch noch gibt,verhält es sich indessen völlig anders: Kurt Pfister komponierte seine Opernballade „Wozzeck“ in der Überzeugung, dass Bergs Werk ohnehin nie mehr auf einen Spielplan kommt – ein grandioser Irrtum, wie sich bald herausstellte; obwohl seinerzeit an einem anderen bayerischen Theater – 1950 in Regensburg – uraufgeführt, hauptsächlich deshalb, weil man sich vom Komponisten, der gleichzeitig Kulturreferent in der bayerischen Staatskanzlei war, geneigtes Wohlwollen als Gegenleistung bei der Vergabe von Subventionen erhoffte, blieb es bei diesem Werk nur bei der Uraufführung, während Bergs Oper ab genau diesem Zeitpunkt sich mehr und mehr die Spielpläne erobert hat.
Carlos Aguirre (Tambourmajor), Sally du Randt (Marie), Christopher Busietta (Andres). Foto: A. T. Schaefer, Theater Augsburg
Dieser neue Augsburger „Wozzeck“ ist in erster Linie ein Abend der Marie, die in Sally du Randt nicht nur eine vielseitige und souveräne Sängerin gefunden hat, sondern eine ebenso interessante, disziplinierte und präzise Darstellerin. Was diese Frau allein in Gestik und Mimik auszudrücken vermag, ist allein schon ein Erlebnis. Dazu eine gesangliche Leistung, die Bergs Forderung nach Umwandlung „der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie“ kongenial umsetzt und dabei den enormen Tonumfang der Partie vergessen lässt, ebenso aber auch seinem Wunsche entsprechen kann, demzufolge „es … nicht einzusehen [ist], warum vieles, das rein kantabel gedacht ist, nicht auch mit der Kunst ‚schönen Gesanges‘ zu bewältigen wäre“ (Berg in einem Einführungsvortrag von 1929!). Dabei gibt es bei ihr große, ergreifende Momente, etwa in der Umklammerung ihres Sohnes, wenn sie davon spricht wie viel Freude er ihr macht „mit [s]einem unehrlichen Gesicht“, oder, vielleicht der stärkste Moment überhaupt, wenn sie versucht, Trost in der Bibel zu finden („Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht, geh hin, und sündige hinfort nicht mehr“) und ihn doch nicht finden kann, statt dessen die Bibel von sich schleudert. Das sind gewaltige Momente, das geht unter die Haut, ergreift emotional – so muss Theater sein. Sie legte mit dieser singulären Leistung die Messlatte sehr hoch, neben ihr zu bestehen war nicht einfach.
Am überzeugendsten gelang dies noch dem Hauptmann von Mathias Schulz, der die Balance zwischen stimmlicher Beherrschung und Grenze zur karikierenden Übertreibung am sichersten traf, während der Arzt des Vladislav Solodyagin diese Grenze scheinbar scheute und zu moderat auf das Fundament seines (oft schwer verständlichen) Basses vertraute. Robin Adams war der Wozzeck, ein dramatischer Bariton von beachtlichen Qualitäten, als Figur – durchaus im Sinne des Werkes – recht verhalten und bescheiden, weshalb er in den Szenen mit den beiden Letztgenannten, besonders aber im Zusammenspiel mit Marie der Unterlegene blieb. Problematisch die Besetzung des Tambourmajors mit Carlos Aguirre, was hauptsächlich eine Frage der Anlage der Figur durch die Regie gewesen sein mag (man fragt sich, was Marie an diesem dandyhaften Zivilisten zu fesseln vermag), er blieb allerdings auch den gesanglichen Herausforderungen der Partie einiges schuldig und dass er mit Marie „eine Zucht von Tambourmajors anlegen“ will, glaubt ihn kein Mensch. Eine ausgezeichnete Charakterstudie gelang Eckehard Gerbot als Erstem Handwerksbursch, stimmlich und als Figur überzeugend. Kerstin Descher fügte sich in der kleineren Aufgabe als Margret gut in das Ensemble ein. Christopher Busietta war textlich wieder einmal schwer zu verstehen – was zu der Bemerkung Anlass geben mag, dass grundsätzlich und für ausnahmslos alle gilt: Textverständlichkeit muss die erste Bürgerpflicht auf der Bühne bleiben! Die Übertitelungsanlage ist doch keine Lösung des Problems, höchstens ein Vehikel! Man muss schon verstehen können, was jemand meint, der einen von der Bühne her fesseln will – da helfen keine technischen Tricksereien.
Überzeugend der Chor und Herren des Extrachores des Theaters Augsburg, sicher vorbereitet von KatsiarynaIhnatsyeva-Cadek, in guter Qualität die Augsburger Philharmoniker, die Roland Techet nicht nur sicher im Griff hatte, sondern auch mit Umsicht und durchaus auch Rücksicht auf die Sänger leitete (was ein deutlicher Fortschritt, gemessen an seinem etwas burschikosen „Einstand“ vor zwei Jahren mit Korngolds „Ring des Polykrates“ bedeutete). Besonders überzeugend gelang das Zusammenspiel der verschiedenen Bühnenmusik-Formationen mit dem großen Orchester, eine beeindruckende Gesamtleistung, auch besonders deshalb, weil die Bühnenmusiker hier wunderbar in die Szene integriert waren, besonders das Kammerorchester in der 3. Szene des 2. Aktes.
Sally du Randt (Marie) und Robin Adams (Wozzeck). Foto: A. T. Schaefer, Theater Augsburg
Für die szenische Umsetzung war das gleiche Team verantwortlich, das im vergangenen Jahr mit „Intolleranza“ einen Riesenerfolg erzielte: LudgerEngels (Inszenierung) und RicSchachtebeck (Bühne und Kostüme). Stimmig und überschaubar ist das Ganze auch diesmal, das auf der Drehscheibe installierte, quasi simultane Bühnenbild funktioniert, die Personenführung scheint plausibel. Es gibt keinen Leerlauf, die einzelnen Szenen werden durch stumme Chorauftritte getrennt oder auch wieder verbunden, das funktioniert alles. Im Verlaufe des Abends kommt man auch dahinter, was Wozzeck mit den vielen Plastefolien um den Käfig herum anstellt. Vielleicht ist es aber gerade das Fragmentarische, das Fragen aufwirft und Rätsel stellt. Auf der einen Seite scheut man sich nicht vor Naturalismen (Schneiden der Stöcke von der Hecke oder die Ermordung Maries z. B.), andererseits verzichtet man auf des Tambourmajors äußere Attribute, die zweifellos eine besondere Wirkung nicht nur auf Marie hätten (und dem Darsteller helfen könnten!) Einerseits ist die Aufwertung der Figur von Mariens Knaben sehr zum Vorteil gelungen, andererseits wirken die übrigen Kinder, die die tote Marie entdeckt haben und ihren Knaben hänselnd informieren aufgesetzt, fast entbehrlich. So recht froh wurde man mit dem Gesamtergebnis leider nicht. Zögernd einsetzender, dann aber sehr zustimmender und anhaltender Beifall des (zur Premiere) voll besetzten Hauses.
Und – um noch einmal auf Daniel Barenboim zurückzukommen: „man muss es regelmäßig hören“. Wer mir erzählt, dass er „Tristan“ oder „Elektra“ beim ersten Hören vollständig verstanden hat, lügt. Wir haben „Tristan“ oder „Elektra“ alle schon –zig-mal gehört und verstehen sie dann (vielleicht) immer besser. Und, auch wahr: „Tristan“ und „Elektra“ sind kein Werk für das so genannte „breite“ Publikum, „Wozzeck“ wird es wohl auch kaum werden. Aber die, die sich ihm stellen und nicht müde werden, haben „Freude und Erhebung“ (wie es der Meininger Theaterherzog an den Giebel seines Theaters meißeln ließ).
Werner P. Seiferth
Robin Adams (Wozzeck), Sally du Randt (Marie), Carlos Aguirre (Tambourmajor). Foto: A. T. Schaefer, Theater Augsburg