AUGSBURG: RITTER BLAUBART (Emil Nikolaus von Reznicek). Wiederaufnahme am 5.4. 2013 (Werner Häußner)
Von der musikalischen Welt nach Wagner wissen wir noch immer viel zu wenig: Wer in alten Musikgeschichten oder Opernführern liest, mag auf das eine und andere Werk stoßen, dass von der zeitgenössischen Kritik als „wagnerisch“ gelobt oder gegeißelt wird. Wir kennen Strauss, wir kennen von Humperdinck eine einzige Oper, hin und wieder ein wenig Schreker oder d’Albert – das war’s. Leider bringt auch das Wagner-Jubiläumsjahr 2013 wenig Licht in die lebendige, gärende, explodierende Zeit zwischen 1880 und 1933.
Immerhin gibt es ein paar Versuche: Dessau befragt mit Massenets „Esclaramonde“ den romanischen „Wagnerisme“ (ab 26. Mai), Coburg inszeniert den lange beliebten, in den letzten Jahrzehnten leider vergessenen „Barbier von Bagdad“ des Wagnerianers Peter Cornelius (ab 27. April). In Annaberg-Buchholz demonstriert dagegen die komische Oper „Der Löwe von Venedig“ von Heinrich Köselitz – alias Peter Gast –, wie sich ein Komponist unter Einfluss Friedrich Nietzsches von Wagners erdrückenden Modellen zu lösen versuchte. Und in Augsburg zeigt „Ritter Blaubart“ von Emil Nikolaus von Reznicek, wie sich die Generation der „Söhne“ des Bayreuther Über-Ichs entledigte, ohne es zu verleugnen.
Von daher passt dieser „Ritter Blaubart“ ausgezeichnet in ein Wagner-Jahr, das ansonsten in überflüssigen Zyklen und Neuinszenierungen der sowieso ständig „befragten“ Werke ertrinkt. Der in Wien geborene Reznicek (1860-1945) ist heute höchstens noch durch „Donna Diana“ bekannt, deren spritzige Ouvertüre gelegentlich in Wunschkonzert-Programmen gespielt wird – während man die kecke Oper „dahinter“ zuletzt 2003 in Kiel zu sehen bekam. Die 1920 in Darmstadt uraufgeführte Blaubart-Adaption hatte vor rund zehn Jahren einigen Erfolg bei einer konzertanten Aufführung unter Michael Jurowski mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, die beim Label cpo auf CD erhältlich ist.
Nach der Augsburger Premiere 2012 und der jetzt erfolgten Wiederaufnahme möchte man Rezniceks Musik durchaus seinen Zeitgenossen wie Schreker, Korngold, d’Albert oder Siegfried Wagner an die Seite stellen. Das opulent besetzte Orchester – in Augsburg mussten die Bläser aus aufführungspraktischen Gründen um etwa die Hälfte reduziert werden – ist souverän eingesetzt. Reznicek ist ein versierter Könner; das zeigt sich im ökonomischen Satz. Die vielen lichten, kammermusikalisch geprägten Momente verweisen ein wenig auf seine Zeitoper „Benzin“, 2010 in Chemnitz uraufgeführt. Aber er kennt auch die gleißnerische harmonische Entgrenzung, die an Mahler erinnert; die üppige Klangpracht, in der wir Schreker wiederhören. Und die Arbeit mit thematischem Material, das unverkennbar ein Erbe Wagners ist – bis hinein in wörtliche Zitate von „Ring“-Motiven.
Unter Dirk Kaftan, Noch-GMD in Augsburg und künftig der Chefdirigent der Oper Graz, verliert sich das Orchester nicht im süffigen Irgendwo, sondern bleibt bei aller sinnlichen Lust am Glanz des Klangs doch scharf in der Kontur. Kaftan dirigiert, so scheint es, einen Stil, der sich mit dem Zeitgeist der Zwanziger Jahre gut verträgt: Das Technische bleibt – anders als etwa bei Korngold – erkennbar, wird nicht im Sound ertränkt. Aber Kaftan kann auch die riesenhaften Aufschwünge zelebrieren, wenn der Schaum des Fortissimos in den oberen Lagen der Instrumente versprüht, wenn sich das Blech und die tiefen Streicher aufmachen zum Parforceritt nach Wagner’s Manier, wenn grelle Klang-Spots die Grenzen der Tonalität verlachen und einen disharmonischen Lichtkegel in die Zukunft klanglicher Entwicklung werfen.
Szenisch stellt das Team Timo Dentler (Bühne), Okarina Peter (Kostüme), Patrik Metzger (Videos) und Henning Streck (Licht) das absichtsvoll verrätselte Stück in die zwielichtige Atmosphäre eines Metallgerüsts, das an eine historische Filmtrommel erinnert. Mit weißen Bahnen verhängt oder von einer Leinwand halbiert, gibt dieses Rund den Schauplatz der „Blaubart“-Handlung. In ihren Grundzügen folgt sie zwar dem Mythos von dem Frauenmörder, aber die Vorlage, ein Schauspiel des vergessenen Dramatikers Herbert Eulenburg, geht andere Wege als etwa Bartoks Oper über den gleichen Stoff.
Rezniceks und Eulenburgs Oper biegt den Mythos um zu einem großbürgerlichen Psycho-Stück, spart nicht mit symbolistischen Anklängen, lässt Blaubart am Ende an der Unverfälschtheit einer Frau scheitern. Man mag sich an Wagners „Holländer“ erinnern, aber auch an Schrekers „Irrelohe“, wenn Blaubart „dieses Lebens furchtbaren Alb voll Graus und Mord“ von sich schleudert und sich vom Feuer geläutert („Vernichtung! Erlösung!“) zur Sonne emporsehnt: eine säkulare Licht-„Religion“, wie sie der avantgardistischen Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht fremd war.
Regisseur Manfred Weiß arbeitet eine Inszenierung aus, die geschickt die Assoziationen an die Psycho-Filmthriller eines Alfred Hitchcock oder die expressionistischen Schwarz-Weiß-Filme nutzt, wie sie die Wiener Jacob und Luise Fleck („Die Schlange der Leidenschaft“, 1918), Fritz Lang oder Robert Wiene („Orlacs Hände“, 1924) gedreht haben. Das Eröffnungsbild mit dem gespiegelten Raum erinnert an „Vertigo“; als Blaubart seine Braut Judith ermordet, zitiert die Szene mit dem herabfahrenden Messer und zerschlitzten Vorhängen die legendäre Dusch-Szene aus „Psycho“.
In Farbe lässt Weiß die Morde an den fünf früheren Frauen auf die Leinwand inmitten der Trommel projizieren: alptraumhafte Erinnerungen, Bildfetzen, grelle Eindrücke traumatisierender Taten. Blaubart balanciert in diesem Stück auf einer gefährlichen Linie: Er ist Täter und Getriebener, ein großbürgerlicher Ritter und ein monströser Mörder, ein Psychopath, bei dem ein Klick genügt, um die unheilvolle innere Schraube in Drehung zu versetzen, die unweigerlich zur Bluttat führt.
Stephen Owen schlüpft nicht in die Rolle des düsteren Dämons. Manchmal hätte man sich einen Doktor-Mabuse-Touch gewünscht, aber Manfred Weiß‘ Regie und Owens Darstellung meiden die Horror-Klischees: Das Abgründige kommt nicht als Monster daher, sondern als jovialer, gesellschaftlich eingebetteter Grandseigneur. Die unheilvollen Ahnungen des Grafen Nikolaus (charakteristisch, aber undifferenziert laut: Vladislav Solodyagin) zerstreut er generös. Auch Werner, der Sohn des Grafen, spürt die Ausstrahlung Blaubarts; ihn aber treibt der schillernde Charakter zu einer fast homoerotisch anmutenden Faszination. Christopher Busietta füllt die kleine Rolle psychologisch genau beobachtet aus.
Blaubart – der in Rezniceks Oper mit dem banalen Vornamen „Rainer“ aus der Mythen-Sphäre gelöst wird – hat einst seine erste Frau in flagranti mit seinem besten Freund erwischt und diesen im Affekt erschossen. Die Frau, so heißt es, starb vor Schreck. Diese Szenerie wiederholt Blaubart traumatisch-zwanghaft bei jeder seiner Frauen – auch bei Judith, die schlank und blond wie alle anderen, die Erinnerung hervorruft. Sally du Randt hat die ideale Figur, das souverän weibliche Auftreten, die blonden Haare, um die krankhaften Muster abzurufen. Manfred Weiß schildert das mit der Genauigkeit eines Filmregisseurs.
Bei der Beerdigung Judiths setzt Blaubart seine vampirische Ausstrahlung gezielt ein, um Judiths Schwester Agnes zu bezaubern. Agnes – das Unschuldslamm – bleibt sie selbst, lässt sich nicht in das kranke Rollenbild zwingen, reißt die blonde Perücke, die ihr Blaubart aufzwingen will, wieder ab. Ihre Authentizität bricht den Bann. Katharina von Bülow zeigt diesen Widerstand aus Treue zu sich selbst in einer stimmigen, genau beleuchteten Darstellung, singt die Agnes mit klarem, gerundetem Sopran. Eine dunkle, rätselvolle Figur hat Mark Bowman-Hester mit charakteristisch grellem Tenor und ausgearbeiteter Körpersprache darzustellen: Er ist der blinde Josua, eine jener sinistren Dienerfiguren, die schon in der englischen „gothic novel“ in den Handlungen spuken. Er setzt am Ende das Schloss in Brand: Irres Austicken oder Rache für Jahrzehnte der Qual? Das Libretto hält das wahre Motiv, wie so vieles in diesem Stück, in absichtsvoller Schwebe.
Mit Rezniceks „Ritter Blaubart“ ist dem Theater Augsburg eine wichtige Ausgrabung gelungen. Die Einwände gegen die Länge der Oper – zweidreiviertel Stunden – und gegen die dramaturgisch scheinbar ungeschickt eingesetzten langen instrumentalen Einschübe verlieren an Gewicht, wenn man der psychologisch motivierten Dramen-Struktur des Stücks folgt. Weiß und sein Team haben Rezniceks sinfonische Exaltationen unter anderem mit einem japanischen Blaubart-Trickfilm sinnvoll in das Geschehen eingebunden und somit den Spannungsbogen nicht reißen lassen. Dieser Komponist verdient es, auch andernorts beachtet zu werden: „Ritter Blaubart“, aber auch seine „Donna Diana“ lohnen den Fleiß des Ausgräbers.