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AUGSBURG: INTOLLERANZA 1960 von Luigi Nono. 2. Premiere

30.09.2013 | KRITIKEN, Oper

AUGSBURG: „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono – 2. Premiere am 29.09.2013

Pressefotos Korngold-Abend 013
Foto: A.T.Schaefer

 Gleich zu Beginn will ich gern zugeben, diesmal mit einer gewissen Skepsis nach Augsburg gefahren zu sein, denn das Werk, das hier zur Aufführung stand – und das sein Schöpfer, Luigi Nono, ausdrücklich nicht als „Oper“ bezeichnet wissen wollte – hatte mir im Vorfeld viel Kopf-zerbrechen bereitet und besonders im Musikalischen auch große Vorbe-halte genährt. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb eine gute Botschaft bzw. ein notwendiger Aufschrei zur Verbesserung der Welt mit einer Musik einhergehen muss, die man nicht versteht, von der man nicht begreift, weshalb einfache Aussagen so kompliziert formuliert werden, dass das Verständnis zumindest erschwert wird. In der mehrmonatigen Vorbereitungsphase auf dieses Werk, habe ich oft gezweifelt, ob ich überhaupt nach Augsburg fahren sollte…

 Diese persönliche Einleitung ist wichtig, weil sie beweisen möge, dass ich nicht als „vorbelastet“ gelten kann im Sinne von „die darüber schreiben, müssen das einfach gut finden“, sondern dass die Konfrontation mit der Aufführung, in diesem Fall die 1. Premiere in Augsburg am 27.9. (siehe online-Merker vom 28.9.) eine solche Wirkung hatte, dass aus dem „Saulus“ im Verlaufe von etwas mehr als einer Stunde ein „Paulus“ wurde.

 Azione scenica in due tempi nennt Nono sein Werk, das er in zwei Teilen klar strukturiert und mit sieben Szenen im ersten und vier im zweiten Teil gliedert, Einleitungs- und Schlußchor nicht mitgerechnet. In diesem Ablauf wird das Leben eines Emigranten geschildert, der Jahre in einem Bergar-beiterdorf schwer gearbeitet und dort auch mit einer Frau gelebt hat und – weil unzufrieden mit den Verhältnissen – das Dorf verlassen will, um seine „Heimat“ zu suchen. Auf seinem Weg gerät er in einer Stadt in eine große Demonstration, dort wird er – willkürlich – festgenommen und auf ein Polizeibüro zum Verhör gebracht. Er verweigert die Aussage, weil er nichts zu sagen hat. Die Frau, die er verlassen hat, befiehlt, ihn zu foltern.

Der Chor der Gefolterten klagt die Machthabenden an und wendet sich ans Publikum: Warum tut niemand etwas gegen Krieg und Intolleranz. Mit einem anderen Gefangenen gelingt dem Emigranten die Flucht. – Aktuelle Absurditäten prallen auf den Flüchtling ein. Er findet eine neue Frau, die  Gefährtin, die sich gegen Intrigen und Lügen auflehnt, gegen alles Schlimme in der Welt, die sich aber ebenso nach Stille, nach Natur und Liebe sehnt. Zwischen beiden entsteht eine Beziehung, die sich sogleich bewährt, als die Frau aus dem Bergarbeiterdorf dazwischen tritt – klar bekennt sich der Flüchtling zu seiner Gefährtin. Als beide die Heimat erreichen, werden sie Zeuge einer großen Naturkatastrophe, die Folge menschlichen Missbrauchs der Natur ist. Die Lebensgrundlagen scheinen vernichtet, aber Emigrant und Gefährtin beschließen: hier muss man bleiben, hier alles ändern. Im Schlusschor wird eine Erinnerungskultur angemahnt, die eine bessere Nachwelt fordert – erinnert euch, um gleiche Fehler zu vermeiden.

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 Dirk Kaftan, Augsburger Philharmoniker und Damen und Herren des Chores des Theaters Ausgsburg, sowie Sally du Randt als Gefährtin. – Copyright: A. T. Schaefer

 Diese Geschichte zu erzählen erfordert zunächst einen außerordentlich leistungsfähigen Chor und ein ebensolches Orchester. Sie fordert aber ebenso eine Bühne, die keine Beschränkungen kennt und eine Bühnen-technik, insbesondere eine Tontechnik, bei der der Grundsatz gilt: „Geht nicht – gibt’s nicht“.  Über all das verfügt das Theater Augsburg und der erste und überwältigende Eindruck der Aufführung ist das spürbare Engagement aller Mitarbeiter dieses Theaters für dieses Projekt. Und das beginnt schon vor dem Betreten des Saales – den man in diesem Fall zunächst nicht betreten kann, sondern man wird von freundlichen Mitar-beitern über Hintertüren, Treppenhäuser und geheimnisvolle Gänge über die Hinterbühne auf die Bühne geleitet, um hier die erste verblüffende Feststellung machen zu können: die Augsburger Bühne ist, von oben betrachtet, viel größer, als man sie gemeinhin in den Aufführungen ver-mutet. Und so haben Ludger Engels (Inszenierung) und Ric Schachtebeck (Bühne und Kostüme) diese gewaltige Möglichkeit für ihre Geschichte sehr klug und differenziert genutzt. Die Bühne ist zu zwei Dritteln mit dem offenen Orchester besetzt, ein weiteres Drittel steht als „Spielfläche“ zur Verfügung. Von hinten aus gesehen sitzen auf der rechten Seitenbühne die eine Hälfte der Zuschauer (Block A), auf der Hinterbühne die andere Hälfte (Block B). Anfangs mischen sich die Zuschauer des Blockes A mit dem Chor, der bereits auf der Spielfläche wandelt und zudem in den außerordentlich komplizierten Einleitungschor einstimmt, der über Band bereits läuft. Mit Beginn der Handlung sind die Zuschauer dann auf die beiden Blöcke verteilt und erleben so „hautnah“, was geschieht. Auf der „Spielfläche“ wird mit sparsamsten dekorativen Mitteln Szene für Szene gestaltet, belassen in ihrer Zeit, nahezu abstrahierend gespielt.

 Und immer „spielt“ das Orchester mit, d. h., die Musik ist „sichtbar“ und übernimmt so ganz zwangsläufig Teile des Geschehens. Für mich am Eindrücklichsten in der Folterungsszene, wo sich die szenische Realität um den Emigranten herum dankenswerterweise sehr zurückhaltend gibt, dafür das Orchester mit einer Brutalität „arbeitet“ im doppelten Wortsinn, die eine viel stärkere Wirkung hat, als jede noch so „realistische“ Bühnenquälerei vorgaukeln könnte. Gefoltert wird bis zur physischen Erschöpfung – die Schlagwerker des Orchesters demonstrierten das in geradezu atemberaubender Weise.

 Die Szenen werden sparsam angedeutet – in der mit der Frau gibt es eine ganz einfache „Nische“ mit wenig Mobiliar, die Folterung findet in einem Glaskasten statt, der Chor, der teils anklagt, teils kommentiert kommt hautnah an den Zuschauer in den beiden Blöcken, was eine Unmittelbarkeit des Einbeziehens schafft und unter die Haut geht. Wenn die Flucht aus der Gefangenschaft gelungen ist, fährt das Orchester während es spielt in die Tiefe (ein Sonderlob an den Arbeitsschutzinspektor, der das erlaubt hat!), der Hauptvorhang öffnet sich und es wird der Zuschauerraum sichtbar mit einem großen bespielbaren Steg über die Parkettreihen hinweg – hier gemeint als der Ausblick auf den Weg in die Freiheit, der vor dem Emigranten liegt. Mit diesem Eindruck geht man in die Pause; danach nehmen die Zuschauer des Blockes A im Zuschauerraum Platz, Block B bleibt auf der Hinterbühne, das Orchester ist wieder auf sichtbarer Höhe und es entsteht eine Art Arena-Bespielung, quasi nach allen Seiten offen. Das geht im Folgenden leider etwas zu Lasten der Protagonisten, die gleichermaßen nach vorn und hinten spielen und singen müssen, was sich besonders im sehr komplizierten Gesang der Gefährtin als Handicap erweist. Auch erreicht die Darstellung der „Naturkatastrophe“ (Hochwasser) im offenen Zuschauerraum nicht die gleiche dichte Wirkung, wie z. B. die Folterung im ersten Teil auf der Bühne. Das sind Kleinigkeiten, die dem Ganzen nicht schaden, die man aber dennoch feststellen muss. Insgesamt muss man der Regie und der Ausstattung bescheinigen, dass sie auf höchstem Niveau arbeiten und die Grenze zwischen klarer Aussage und vordergründigem „Zeigefinger“-Theater mit Sicherheit zogen: Man sah so viel, als man zum Verständnis der Handlung sehen musste, man wurde in seiner eigenen Phantasie nicht durch ein willkürlich aufgedrücktes Regie-Diktat behindert. (Übrigens auch nicht durch falsche Kostüme, die irgend welche „Assoziationen“ herzustellen sich bemühten; es wurde in schlichter Gegenwartskleidung gespielt).  Es wäre schön, wenn dieses Beispiel auch bei manch klassischem Werk Schule machen könnte…

Pressefotos Korngold-Abend 014
Foto: A.T.Schaefer

 Die gewaltigen musikalischen Anforderungen, die Nonos Partitur stellt wurden von allen Beteiligten „mit Leichtigkeit“ beherrscht, das schreibt sich so, ist aber natürlich nicht einmal die halbe Wahrheit. Und insofern waren die beiden Premieren auch nicht gleich, herrschte noch am Freitag eine gewisse Befangenheit und „Angst vor der eigenen Courage“, so war die Sonntags-Vorstellung, ohne an Spannung zu verlieren, gelöster und schon von einer Souveränität geprägt, die erkennen ließ, wie gründlich in Augsburg gearbeitet wurde. Hier sind natürlich zuerst der GMD Dirk Kaftan und seine Chordirektorin Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek zu nennen, die nicht nur vorzügliche Arbeit sondern vor allem auch hohe Motivationsfähigkeit bewiesen, denn man merkte jedem Einzelnen an, das er hinter der Sache steht und die Sache mit Überzeugung „rüberbringen“ will. Es muss in diesem Zusammenhang auch der musikalische Assistent Michael Wagner lobend erwähnt werden, der in wahrer Kärrnerarbeit am Klavier die Einstudierung verantwortlich übernahm (und auf der Premierenfeier zu Recht vom GMD Kaftan besonders gelobt wurde!). Die Anforderungen, die dieses Werk an Chor und Orchester stellt, sind absolute Ausnahmen und sie wurden von beiden Klangkörpern souverän gemeistert. Bravo!

 Was Nono den Solisten in diesem Werk abverlangt ist ebenfalls nur schwer zu beschreiben, die Partien des Emigranten und der Gefährtin beispielsweise in so extreme Intervalle und auch Höhen getrieben, dass man denkt und (wer sich vorher mittels CD einen Überblick verschafft hat) weiß, das beide Partien eigentlich nicht singbar sind. Mathias Schulz konnte die Schwierigkeiten über weite Strecken vergessen machen, war stets präsent und vermittelte den Eindruck, dass die Unzulänglichkeiten, vor denen er flieht schlimmer sind, als die Unzumutbarkeiten der gesanglichen Diktion. Sally du Randt ging als Gefährtin sogar noch einen Schritt weiter: sie „spielte“ quasi mit den Schwierigkeiten der musikalischen Diktion (was ihr, siehe oben, am Sonntag noch besser gelang als am Freitag!), ihre Sehnsucht nach Liebe und Zuversicht war stärker als ihr Hass auf Lüge und Intrige – so wurde sie zur Hoffnungsträgerin des Werkes durch genaue Analyse des Notentextes: ihre Extrem-Ausbrüche insbesondere in einer Tessitura, die gemeinhin im dramatischen Fach nicht gefordert wird, differenzierten zwischen Hoffnung und Sehnsucht einerseits und Haß und Abscheu andererseits. (Die Notwendigkeit, gegeben durch den Bühnenraum, dies zwischen vorn und hinten zu dosieren, stellten eine zusätzliche Belastung dar, die sie mit Geschick meisterte.)  Eine großartige Leistung dieser schon so oft bewährten Künstlerin. Die weiteren Partien sind nur deshalb nicht so anspruchsvoll, weil sie weniger Umfang haben. So kann Kerstin Descher als Frau mit einer warmen Altstimme überzeugen, Vladislav Solodyagin hat als Gefolterter gar schöne, wohlklingende musikalische Momente zu gestalten, was ihm mit seinem sonorem Bass bestens gelingt. Wie leistungsstark das Augsburger Ensemble ist, wurde in der kleinen, aber extrem hoch liegenden Partie des Sopran-Solo bewiesen, die am Freitag von Cathrin Lange und am Sonntag von Victoria Granlund souverän gemeistert wurde. Zudem gab Guilio Alvise Caselli zuverlässig den Algerier.

 Begleitet wurden diese beiden Premieren von „Projekten“, die – auch teilweise außerhalb des Theaters – dem Ganzen dienten. Aktionen von Künstlern aus Augsburg und München, aber auch wissenschaftliche Beiträge in einer Podiumsdiskussion mit u. a. den Nono-Experten  Dr. Jürg Stenzl und Dr. Carola Nielinger-Vakil, Letztere hielt außerdem einen Vortrag zu Nonos Werk. Im Leopold-Mozart Zentrum konnte man den Stummfilm „Intolerance“ von 1916 von David W. Griffith, in der brecht-bühne den Film zu Nonos Werk von Bettina Ehrhardt erleben. Augsburg hat im wahrsten Sinne mobil gemacht und Kante gezeigt. Das war, unter der Leitung der Intendantin und Dramaturgin Juliane Votteler , an diesen drei Tagen allenthalben zu spüren.

 Und – das darf auf keinen Fall vergessen werden: das Publikum war an beiden Abenden nicht nur sehr beeindruckt, sondern auch freudig bewegt: es gab reichlich, und verdienten Beifall.  Es gab weder Buh-Rufe  noch andere Proteste (wie noch zur Uraufführung 1961 in Venedig), kein Zu-schauer verließ vorzeitig die Aufführung. Mit einem Wort: die Augsburger haben ihr Ziel erreicht. Meinen Respekt!                     

 Werner P. Seiferth       

 

 

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