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ATHEN/Onassis Cultural Centre/Fast Forward-Festival: „LES LOUVRES AND/OR KICKING THE DEAD“ & „SO LITTLE TIME“

Trugbilder der Geschichte

16.05.2018 | Allgemein, Theater


Rabih Mroué. Copyright: Jeva Griskjane

Onassis Cultural Centre, Athen
Fast Forward Festival
„Les Louvres and/or Kicking the Dead“ & „So Little Time“
Besuchte Vorstellungen am 15. Mai 2018

Trugbilder der Geschichte

Das Fast Forward Festival des Onassis Cultural Centre bot auch in diesem Jahr die Gelegenheit, zahlreiche öffentliche Räume neu oder überhaupt erst zu entdecken. Der „archäologische Aspekt“ erhielt so eine besondere Bedeutung. Die postkoloniale Debatte spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Kader Attia’s Film „The Body’s Legacies – Pt 1: The Objects“, der im historischen Kino Iris im Zentrum Athens gezeigt wurde, präsentierte Interviews mit Experten, die den Umgang mit afrikanischen Objekten in europäischen Museen diskutierten. Die Filminstallation „One or Several Tigers“ von Ho Tzu Nyen bot in einem alten Schulgebäude einen spielerisch-animierten Blick auf Singapurs koloniale Vergangenheit: das Werk kam daher als poetischer Gesang des Tigers mit Elementen traditionellen Schattentheaters. Solche Beiträge forderten das Publikum in äusserst gelungener Weise zum Nachdenken auf. Zum Festivalende fanden zwei anregende performative Annäherungen an Geschichte im Gebäude des Kulturzentrums statt.

Im Ausstellungssaal präsentierte der Künstler und Kunstprofessor Walid Raad seine Lecture-Performance und Ausstellung „Les Louvres and/or Kicking the Dead“. Darin erzählt Raad über vieles: über Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, seine Kunsthochschule „The Cooper Union“ in New York, den Pariser Louvre und Abu Dhabi, Immobilienspekulanten in New York und so weiter. Kunstvoll verbindet er alle Details zu einer komplexen Narration. Raad macht dabei das Erzählen zum eigentlichen Zentrum und Motor der Performance. Das Publikum erlebt, wie sich Fakten und Fake-News gleich Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild fügen. Man bekommt zwischen Bilderkisten und mit Fotos geschmückten Tapeten lebendig und unterhaltsam vorgeführt, wie nahe Dichtung und Wahrheit beieinander liegen können. Und man mag eine Ahnung von der Komplexität einer möglichen Weltbeschreibung erhalten – Zusammenhänge und Verbindungen lauern überall, wie Walid Raads anregender Monolog beweist.

Einen Monolog der anderen Art hat der Theaterkünstler Rabih Mroué für die Schauspielerin Lina Majdalanie geschaffen: „So Little Time“ nimmt uns mit auf einen abenteuerlichen Streifzug durch die Geschichte des Libanons. Im erzählerischen Gestus des Orients wird von einem berichtet, der auszog, um für die Sache der Palästinenser zu kämpfen, der fälschlicherweise für tot und zum Märtyer erklärt wurde, der nach nach seiner überraschenden Rückkehr mit dem falschen Ruhm und den politischen Fraktionen umgehen musste. Die Komplikationen, die sich aus diesem aberwitzigen Lebenslauf ergeben, zeichnen so knapp wie präzise die komplexe historisch-politische Situation des Libanons in den letzten Jahrzehnten. Dabei kommt keine Seite ungeschoren davon. Lina Majdalanie ist eine grossartige Erzählerin, ihr arabischer Sprachfluss entwickelt einen unglaublichen Sog: besser lässt sich diese traurig-komische Geschichte nicht vortragen. Was man hört, klingt wie eine Parabel aus scheinbar ferner Zeit – fast möchte man es ein Pendant zu Lessings Ringparabel nennen. Der bildhaften Sprache zu folgen, ist ein grosses und lehrreiches Vergnügen. Mroué und Majdalanie machen den Lauf der Geschichte als das erkennbar, was er ist: verwirrend und unberechenbar. Dass sich Historie aus Erinnern und Vergessen konstituiert, macht der grossartig einfache Bühnenraum von Samar Maakaroun deutlich, in dem sich Fotografien der Performerin im Säurebad in weisse Papiere zurückverwandeln. Ein äusserst sprechendes Bild ist das.

Das Publikum strömte nicht in Scharen zu den Performances, die, welche erschienen, zeigten aber grosses Interesse am Gebotenen. Das Festival war im besten Sinne ein Ort des Diskurses, wo zahlreiche anregende Gedanken und Fragen aufgeworfen und erörtert wurden.

Ingo Starz (Athen)

 

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