Griechische Nationaloper : Christoph Willibald Gluck: Iphigénie en Aulide & Iphigénie en Tauride
Besuchte Vorstellung am 30. Oktober 2024
Copyright: Valeria Isaeva
Traumata des Krieges
Dank der anhaltenden Unterstützung durch die Stavros Niarchos Stiftung kann die Griechische Nationaloper ihre Aktivitäten auf dem internationalen Parkett ausbauen. Als Koproduktion mit dem Festival Aix-en-Provence stemmt das Athener Opernhaus nun an einem Abend zwei Opern von Christoph Willibald Gluck auf die Bühne: „Iphigénie en Aulide“ und „Iphigénie en Tauride“. Wie die Werktitel anzeigen, gibt es einen engen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden Opern. Deren Handlung vollzieht sich im Kontexts des in Homers „Ilias“ behandelten trojanischen Krieges und sie dreht sich um die mykenische Königstochter Iphigenie. „Iphigénie en Aulide“ spielt im griechischen Heerlager vor dem Aufbruch nach Troja, „Iphigénie en Tauride“ zeigt eine traumatisierte, in Auflösung begriffene Nachkriegsgesellschaft. Letzteres ist, das muss hinzugefügt werden, die Sicht des Regisseurs Dmitri Tcherniakov. Glucks Werke werden dazu herangezogen, um sozusagen das (sich stetig wiederholende) Vor- und Nachspiel eines Krieges darzustellen.
Tcherniakov zeigt mit seiner einfühlsamen Personenführung, wie das nahe Kriegsgeschehen eine Familie auseinanderreisst und die Kriegsfolgen die Überlebenden zeichnen. Es geht in den beiden Opern, was schon angesprochen wurde, um das Haus der Atriden, darum, wie Macht und Gewalt eine Familie zerstören. Es ist darum kein Zufall, dass ein vom Regisseur entworfenes Haus die Bühne in beiden Teilen beherrscht. Es ist eine Architektur, die in ihrer Formensprache das Private und das Öffentliche – und damit das Religiöse einschliessend – verbindet. In der „Iphigénie en Aulide“, deren Handlung vor dem Kriegszug stattfindet, wird das Haus als Ganzes gezeigt. In der zweiten Oper, die nach dem Krieg spielt, zerlegen Leuchtstäbe die Hauskonstruktion gleichsam in Fragmente. Die Nachkriegsgesellschaft zeigt sich als verwahrlost, moralisch am Boden. Und Iphigenie gebärdet sich darin wie eine seelisch Verwundete, vor Verlustschmerz Rasende, die von den Gespenstern der Vergangenheit – das Personal der ersten Oper erscheint immer wieder Untoten gleich auf der Bühne – umgeben ist. Davor aber, vor dem Krieg und das macht Tcherniakov ganz deutlich, werden Machtspiele geführt. Der Krieg rechtfertigt dabei ein Menschenopfer, wenngleich es nicht Iphigenie ist, die getötet wird, sondern die Göttin, die sie im Original rettet. Das ist eine interessante Pointe der Inszenierung, die wohl, da Diana im Brautkleid gezeigt wird als als Fake, als inszeniertes Opfer zu sehen ist. Ein Gewaltakt, der von den Akteuren gefeiert wird. Iphigenie steht am Ende der ersten Oper ausserhalb des Hauses. „Iphigénie en Tauride“ fokussiert dann das Geschehen auf die Atridentochter, ihren Bruder Orest und dessen Freund Pylades. Intensiv breitet der Regisseur den Konflikt aus, der nun Iphigenie ruhelos macht, weil sie als Priesterin einen der beiden opfern soll, um die taurische Gemeinschaft von ihrer Nachkriegsnot zu erlösen. Es ist wirklich beeindruckend, wie Tcherniakov die beiden Werke Glucks zusammenführt und eine stringente, um Fragen des Krieges kreisende Erzählung kreiert.
Unter der engagierten Leitung von Michael Hofstetter läuft das Orchester der Nationaloper zu Hochform auf. Der spätbarocke Charakter des ersten, und der fast schon Beethoven vorwegnehmende Charakter des zweiten Werks werden lebendig zur Aufführung gebracht. Der Klang wird hier tatsächlich zur Sprache, verbindet sich der Idee des Komponisten folgend auf das Engste mit den Worten des Librettos. Der von Agathangelos Georgakatos einstudierte Chor singt klangschön, kommt aber durch seine häufige Positionierung im Bühnen-Off manchmal zu leise über die Rampe. Das ist ein kleines Manko der Inszenierung.
Die Besetzung ist durch die Bank erstklassig. Kaum überraschend ist es Corinne Winters als Iphigénie, welcher der Lorbeer gebührt. Intensiv und mit rundem, warmem Ton singt sie die beiden Iphigenierollen und wird dem unterschiedlichen musikalischen Ausdruck der Werke mustergültig gerecht. Tassis Christoyannis und Véronique Gens als Herrscherpaar Agamemnon und Klytämnestra demonstrieren in Gesang und Spiel grosse Gestaltungskunst. Imponierend sind die Stimmen der beiden Tenöre, von Anthony Gregory als Achill und Stanislas de Barbeyrac als Pylades. Dionysios Sourbis gibt einen intensiven Orest, etwas weniger Tremolo hätte der Darbietung allerdings gut getan. Alle weiteren Rollen sind ebenfalls erfreulich gut besetzt: Nikolas Douros als Patroklos, Petros Magoulas als Kalchas, Alexandre Duhamel als Thoas, Maria Mitsopoulou als Priesterin, Soula Parassidis als Diana und Georgios Papadimitriou als Arkas/Vorsteher des Heiligtums. Es ist eine tolle Ensembleleistung, die den langen Opernabend zu einem grossen Erlebnis macht.
Am Ende des fünfstündigen Abends haben sich die Reihen bedauerlicherweise etwas gelichtet. Die Anwesenden feiern alle Beteiligten mit lautstarken Ovationen.
Ingo Starz (Athen)