Athens Epidaurus Festival / Altes Parlament
Efthimis Filippou: Etymologies
Besuchte Vorstellung am 21. Juli 2024
Copyright: Andreas Simopoulos
Angeliki Papoulia ist ein bekanntes Gesicht in der griechischen Kulturszene. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten war sie vielfach in Theater und Film an innovativen Projekten beteiligt. Sie trat in Filmen von Yorgos Lanthimos auf – ein grösseres Publikum sah sie in dessen Film „The Lobster“ (2015) – und gehörte über Jahre zum experimentellen, in Athen beheimateten Theaterkollektiv „Blitz“. Im Sommer letzten Jahres wirkte sie in der „Medea“-Inszenierung von Frank Castorf im antiken Theater von Epidauros mit. Efthimis Filippou ist gleichfalls kein Unbekannter. Auch er trat an der Seite von Lanthimos in Erscheinung, als Drehbuchautor nämlich. Daneben hat er auch immer wieder für das Theater gearbeitet. Seine neueste Stückentwicklung kommt nun im Rahmen des Athens Epidaurus Festival zur Uraufführung. Papoulia und der Autor führen Regie.
Im politischen Geschäft und im öffentlichen Leben spielen Worte und deren Bedeutungen eine wichtige Rolle. Oft wird über die richtige Auslegung gestritten, bisweilen kursieren Falschmeldungen, welche auf verfälschten Bedeutungszusammenhängen beruhen. Wer weiss schon immer, woher sich ein bestimmtes Wort ableitet? Filippou Stück „Etymologies“ geht der Herkunft, dem Alter und der Verwandtschaft von Worten nach. Er tut dies aber nicht in wissenschaftlichem Sinne, sondern indem er Ethymologien erfindet. Und wie man weiss, kann Erfundenes verdammt wahr klingen. Sein Stück spielt mit dem, was wahr sein könnte, es aber nicht ist. Es wirft einen entlarvenden Blick auf Geschichte, Mythen, Nation und Identität. Filippous Text entwirft dabei eine Vortragssituation: Es geht in ihm um die erste Konferenz eines Forschungsinstituts, das sich der Etymologie griechischer Wörter verschrieben hat. Der Autor und Papoulia platzieren diese Situation in einen historischen, politisch aufgeladenen Raum: den Plenarsaal des Alten Parlaments, welcher heute Teil des Nationalen Historischen Museums ist.
Im Zentrum der Handlung stehen zwei Forscherinnen, dargestellt von Reni Pittaki und Angeliki Papoulia. Daneben tritt ein griechisch-französisches Ehepaar in Erscheinung, welches als Präsidium des Instituts fungiert. Konstantina Kolovou und Jean-Jacques Tesson agieren in diesen Rollen. Desweiteren treten der Sänger George Davlas, der Musiker Panagiotis Melidis und via Video ein Männerchor sowie der Schauspieler Christos Stergioglou als Sänger auf. Filippou hat eine Konferenz erschaffen, in der Wortanalysen vorgetragen werden und Musik die Pausen gestaltet – wobei das gesungene Wort durchaus Deutungszusammenhänge erweitert. Die Hauptszenen oder Sprechakte sind die Wortanalysen, die von den Forscherinnen vorgetragen werden. Diese recht absurd daherkommenden Texte erschaffen einen mythischen Hintergrund für Wörter und tun dies in einem sprachlichen Ton, der an altgriechische Autoren wie Homer erinnern kann. Dabei werden Geschichte und Gegenwart, Topografie und Klischees auf oft Heiterkeit hervorrufende Weise verbunden. Nationales Narrativ und Pathos werden so beständig unterlaufen, das Allzumenschliche griechischer Lebenswelt tritt in den Vordergrund. Man hört von der Schweigsamkeit eines Pferdes und davon, dass die Bezeichnung der Insel Hydra aus vier Hundenamen hervorgeht. Es ist eine schöne Idee, Griechenlands Erbe und Verfasstheit aus sprachlicher Perspektive zu be- und hinterfragen.
Mit dem ehemaligen Plenarsaal ist das Bühnenbild der Aufführung in gewissem Sinne bereits vorgegeben. Cleo Boboti hat nur Details hinzugefügt, wie Blumengebinde oder eine überdimensionierte Textmappe. Projektionen begleiten die Vorträge und unterstreichen deren vermeintliche Wissenschaftlichkeit. Das Konferenzgeschehen läuft ziemlich wohlgeordnet ab: Begrüssungsworte, Wortanalysen, Pausenmusik, Lesung von Flüchen, dann weitere Wortanalysen und fiktive Publikumsfragen. Da und dort durchbrechen Alkoholgenuss der Podiumsteilnehmer und persönliche Bemerkungen oder Gesten den gesetzten Rahmen. Anders aber als bei Arbeiten eines Christoph Marthaler, an den das Setting und die etwas absurd daherkommende Vortragssituation erinnern mögen, kommt es jedoch nicht zu grösseren Ausbrüchen aus dem Textgefüge oder virtuosen schauspielerischen Extempores. Es ist ein gelungener, aber etwas zu ruhig dahinfliessender Abend. Und einer, der für Nichtgriechen nicht immer unmittelbar verständlich sein dürfte. Sprachliche Aufreger, das zeigen die Publikumsreaktionen, blieben an diesem Abend aussen vor. Die Zuschauer spenden am Schluss starken, anhaltenden Applaus.
Ingo Starz (Athen)