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Athens Epidaurus Festival, Peiraios 260
Der Wald
Besuchte Vorstellung am 12. Juli 2021
Vom Wald und seiner kolonialen Erbsünde
Ökologische Fragen und Probleme sind längst auch im Urlaubsparadies Griechenland angekommen. Dieser Tage mag man etwa an die alljährlich wiederkehrenden Waldbrände und deren verheerende Folgen denken. Die Theaterregisseurin und Schauspielerin Sofia Marathaki fiel bereits in der Vergangenheit durch ihr Interesse an vielschichtigen Texten und durch ihre ausgefeilten ästhetischen Inszenierungen auf. Es waren oft fragile Innenwelten, die sie auf die Bühne brachte. Nun wendet sie sich, wenn man so sagen will, der Aussenwelt zu und blickt in ihrem neuesten Projekt auf und in den Wald – allerdings nicht demjenigen von Griechenland, sondern jenem von Übersee. Ihr Projekt basiert auf dem Roman „Barkskins“ von Annie Proulx. Unter Einschluss der dokumentarischen Theaterpraxis breitet Marathaki ein grosses Panorama nordamerikanischer Geschichte aus, beginnend in der Gegenwart und zurückgehend ins 18. Jahrhundert, in die Jahrzehnte vor der amerikanischen Unabhängigkeit. Welche Perspektive nimmt die Regisseurin auf den Lebensraum Wald in Nordamerika?
Proulx‘ Roman folgend erzählt sie die Geschichte der Einwanderer René Sel und Charles Duquet sowie deren Nachkommen. Dabei wird die Geschichte der Entwaldung der Neuen Welt im kolonialem Kontext vorgeführt, werden ökologische und gesellschaftliche Aspekte eng miteinander verknüpft. Marathaki zeigt den Grundkonflikt zunächst am Beispiel der Gegenwart, wo ein Mitglied der Duke & Sons-Dynastie gegen die Abholzung der Wälder und damit gegen die Geschäftspraxis des Familienunternehmens rebelliert und auf die Suche nach einem anderen Umgang mit der Natur geht. Nachfolgend lässt ein filmisch-dokumentarischer Einschub Experten zu Wort kommen und von der heutigen Lage der Wälder berichten. Dann geht das Stück in zwei Schritten zurück in die Vergangenheit. Es erzählt von der Vor- und Frühphase des Unternehmens Duke & Sons und damit auch von der Eroberung der Neuen Welt. Marathakis Stück zeigt, wie die beginnende Abrodung der Wälder mit der Enteignung der indigenen Bevölkerung einhergeht. Nicht nur die Zerstörung von Naturraum nimmt im 18. Jahrhundert ihren Anfang, sondern auch die Beseitigung und Zerstörung eines Lebens im Einklang mit der Natur. Man könnte sagen, dass diese Geschichte, welche die Vorgeschichte der USA repräsentiert, mit einer Erbsünde beginnt, deren ökologische und soziale Verwerfungen bis heute fortwirken. Sofia Marathaki hat sich in der Tat ein spannendes und höchst aktuelles Thema ausgesucht.
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Der Roman ist durchaus geschickt auf die Bühne gebracht und besonders im zweiten Teil in teils eindrückliche Bilder übersetzt. Gleichwohl fällt manches zu holzschnittartig aus, verliert der Zuschauer bisweilen die Übersicht. Die Regisseurin hätte der Erzählung mehr Raum, sprich mehr Dialoge geben sollen. Dies hätte die handelnden Figuren in plastischeres Licht gerückt. Generell funktioniert der Wechsel von direkter und indirekter Rede gut und die Szenenfolge ist plausibel. Zu fragen ist, ob der dokumentarische Einschub wirklich nötig ist. Proulx‘ Roman hätte wohl genügt, um die Aktualität des Stücks deutlich hervortreten lassen – andererseits hätten Textzufügungen à la Castorf eine andere Möglichkeit der Reflexion eröffnet. Sofia Marathaki, Elena Triantafyllopoulou und Ioanna Valsamidou haben in jedem Fall gute Arbeit mit der Bearbeitung des Textes bewiesen. Die Ausstattung von Constantinos Zamanis schafft Raum für Assoziationen und schnelle Szenenwechsel. Der Wald ist mit Baumstümpfen (welche die Gegenwart anzeigen) von Anfang an präsent. Die Musiker auf der Bühne (Vassilis Tsavaras und Michalis Katachanas) sorgen für passende klangliche Echos. Das Ensemble bietet durchwegs überzeugende Leistungen: Georgina Daliani, Eleana Kafkala, Nestor Kopsidas, Sofia Marathaki, Konstantinos Papatheodorou, Dimitris Passas und Giorgos Syrmas.
Das Publikum bedankt sich für die anregende Aufführung mit starkem Beifall.
Ingo Starz (Athen)