Arno Geiger:
DAS GLÜCKLICHE GEHEIMNIS
240 Seiten, Carl Hanser Verlag. 2023
Arno Geiger zählt zu den erfolgreichsten österreichischen Prosaautoren, der bisher gelegentlich auch Privates in sein Werk einfließen ließ (vor allem im die viel gepriesene Darstellung von der Demenz-Erkrankung seines Vaters in „Der alte König in seinem Exil“). Nun schreibt er, obwohl erst 55 Jahre alt, erstmals unverhohlen über sich selbst – „Das glückliche Geheimnis“, am Ende etwas zu sehr mit Lebensweisheiten belastet. Aber die meiste Zeit doch ein Lesevergnügen mit einem „Kick“.
Mir ist klar, ein Buch über mich selbst, das ist schwierig, heißt es auf Seite 194. Es ist ein Buch darüber, „wie ich auszog, ein Schriftsteller zu werden“. Das wollte der Junge aus dem Vorarlbergischen Wolfurt immer. Er und Tausende andere, die vergeblich hoffen. Er hat es, nicht ohne Mühe und nach vielen Anläufen, geschafft. Geradezu glanzvoll, wenn man an die Verkaufszahlen seiner erfolgreichsten Romane denkt.
Aber wie spannend wäre das – Junge aus der Provinz geht mit Freundin in die große Stadt Wien, studiert, schreibt, bekommt kleine Zipfel des Literaturbetriebs zu fassen, nimmt an Lese-Wettbewerben teil, erhält hier ein Stipendium, dort eine Empfehlung, wird mit seinen ersten Werken nicht wirklich wahrgenommen, bis dann mit einem großen Familienroman („Es geht uns gut“, 2005 erschienen) der große Durchbruch kommt.
So gewaltig mit Preisen, medialer Verwertung, plötzlicher Berühmtheit so weit Autoren berühmt werden können, dass es fast zu viel wird. Aber von da an reitet er mit seinen Büchern auf den Wellen des Erfolgs. Ein „neuer Arno Geiger“ wird immer wahrgenommen.
Was erzählt er uns noch? Von den Eltern, dem Tod des Vaters, von der ganz besonderen Mutter, die Geschwister kommen kaum vor. Und natürlich von den Frauen, die keine Namen bekommen, sondern nur Abkürzungen: M. ist die Jugendfreundin, mit der er aus Vorarlberg nach Wien kommt und seine zwanziger Jahre verbringt. K. ist die Frau, mit der er heute glücklich verheiratet ist, aber davor haben sie einander die Hölle heiß gemacht, was fast bis zur Ermüdung geschildert wird. Und da war O., eine mexikanische Malerin, die er während eines Stipendium-Aufenthalts in Polen kennen gelernt hat und mit der ihn eine unruhige, aber leidenschaftliche Beziehung verband.
Als er ihr sagte, er habe ihr ein Geheimnis anzuvertrauen, erwartete sie eine Todeskrankheit, Drogensucht oder etwas ähnlich Dramatisches. Als er ihr sagte, worum es ging, nannte sie es „ein glückliches Geheimnis – Un secreto feliz“.
Dieses Geheimnis nimmt nun tatsächlich einen großen Teil des Buches ein: Nachdem ich so lange die Freude des Verschweigens ausgekostet habe, nehme ich mir jetzt die Freiheit des Erzählens.
Und wer wie der Autor die Faszination für bedrucktes Papier teilt, wird mit Begeisterung mitgehen. Dabei nämlich, dass ein Vierteljahrhundert Weggeworfenes Teil meines Lebens war, dass sich der Student regelmäßig aufmachte, rund um den Naschmarkt (und auch weitere Kreise ziehend) die Müllstationen aufzusuchen und in die Papiercontainer zu hechten, und das im wörtlichen Sinn. Um im ersten Stadium Bücher hervor zu holen, jene, die er selbst lesen wollte, jene, die er retten wollte, weil er einfach nicht verstehen konnte, dass Menschen so kostbare Literatur wegwarfen – und jene, die wertvolle Schätze waren, aus Unwissenheit in den Müll geschleudert. Mit Uralt-Ausgaben von Büchern oder mit Postkarten der Wiener Werkstätte, zufällig gefunden, hat er nicht nur am Flohmarkt genug Geld gemacht, um seinen Wien-Aufenthalt zu finanzieren. Dass sich an die Schilderung dieser Zeit auch elementare Überlegungen zur Wegwerfgesellschaft anknüpfen, macht das Buch durchaus zu einem semi-philosophischen Zeitdokument.
Aber, und das ist wohl das Besondere, auch der berühmte Arno Geiger, der erwarten (oder befürchten) konnte, dass man sein Gesicht aus zahlreichen Fernsehauftritten und veröffentlichten Fotos kannte, machte (wieder in Wien, immer mit Abstechern nach Hause) damit weiter, sich unter die tiefsten sozialen Schichten zu mengen, unter die Lumpensammler, und weiter nach „Papier“ Ausschau zu halten. (Dass man auf diese Leute einfach nicht schaut, erleichtere ihm seine anonymen Streifzüge.) Nun konzentrierte er sich bei der Suche auf Briefe und Tagebücher von Verstorbenen, die schachtelweise im Müll landeten. Er hat, sagt er, als Schriftsteller unendlich viel daraus gelernt. Sein Buch „Unter der Drachenwand“ basierte auf zwanzigtausend Briefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die er innerhalb von zehn Jahren gelesen hat, ein Drittel im Abfall gefunden, ein Drittel vom Flohmarkt, ein Drittel im Internet gekauft…
Dass das Sammeln und Retten von altem Papier ein wesentlicher Teil seines Lebens war, macht das Buch klar. Seltsam die Wendung im Lauf der Jahrzehnte – heute plädiert Geiger dafür (eine typische Alterserscheinung), möglichst viel wegzuwerfen: Das Nichts ist erstrebenswerter als Berge von unnützem Kram.
Glücklicherweise hat er sich lange nicht daran gehalten. Und ein Buch geschrieben, das privat von ihm erzählt, das viel über Literatur nachsinnt (wie er sie begreift), das einer Klarheit der Sprache folgt, die er sich selbst auferlegt und nur am Ende etwas ausufert.
Eine seltsame Überlegung ergibt sich schließlich durch die jüngsten Ereignisse. Als ob Arno Geiger etwas wie den Pädophilie-Skandal voraus geahnt hätte, stellte er Überlegungen zu „Geheimnissen“ an, die das Leben gewissermaßen würzen. Und gar „sexuelle Geschichten“, wo er nur auf Swingerclubs und Dominas kam, aber genau analysierte, was das Prickelnde an einem Geheimnis sein könnte: Ich habe etwas, von dem die Geschwister, Freunde und Nachbarn nichts wissen, das ist meins, das gehört mir. Nur mir! Nur mir!
Nun, Geiger hat sein persönliches „glückliches Geheimnis“ preisgegeben, hat es analysiert, eingeordnet und seinem letzten Zweck (nämlich Literatur daraus zu machen) zugeführt. Es wäre zu wünschen, dass alle, die das Buch lesen, darin etwas für sie Wichtiges finden. Schön wärs wünscht er sich wie jeder Autor.
Dass Arno Geiger am Ende immer wieder den Eindruck erwecken möchte, er sei alt und das sei sein letztes Buch, glaubt man ihm nicht. Will man ihm nicht glauben.
Renate Wagner