Es geht rund
oder:
Das Publikum schlägt zurück
Lange hieß es, das Wiener Publikum gehe der Schauspieler wegen ins Theater und der Sänger wegen in die Oper.
Das müsse, so überlegten Leute in Führungspositionen, diesem dummen Publikum doch abzugewöhnen sein. Sie sollten gefälligst der Regisseure wegen kommen und sich über Interpretationen den Kopf zerbrechen. Wie gut das gespielt und gesungen ist, sei wohl zweitrangig.
Nach diesem Gesetz verfahren einige Herrschaften in Wien, und wenn sie mit ihren Besucherzahlen eingebrochen sind, gab es die beste Ausrede der Welt: Corona.
Was aber, wenn das Imperium der Zuschauer zurück geschlagen hat und deutlich gesagt: Wir wollen nicht mehr! Nein, danke, das nicht! Nicht länger mit uns!
Nun gehe ich persönlich unaufhörlich ins Theater, sobald es etwas Neues gibt – eine Gewohnheit, mir seit den Teenager-Jahren eingeprägt, nach Jahrzehnten nicht so leicht zu tilgen. Diese verdammte Neugierde, es immer wieder wissen zu wollen, trotz der unaufhörlichen schlechten Erfahrungen, mit denen man geprügelt wird.
Wenn ich nun auf das Burgtheater-Angebot der noch gegenwärtigen Saison (für das Haus allerdings abgeschlossen, keine Premieren mehr bis zum Ende der Spielzeit) zurück blicke, was sehe ich – abgesehen davon, dass mir das meiste gar nicht mehr einfiele, wenn ich nicht so gewissenhaft Buch führte? (Zum Glück gibt’s Excel).
Ich will nur zur Erinnerung die quantitative Überfülle dessen, was das Burgtheater des Martin Kusej an Premieren geboren hat, anführen – und dabei habe ich durchaus das Eine oder Andere verweigert.
04.Sep.21 Burgtheater / Akademietheater
Jelinek: Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!
05.Sep.21 Burgtheater
Schiller: Maria Stuart
09.Sep.21 Burgtheater
Shakespeare: Richard II.
18.Sep.21 Burgtheater
Handke, Peter: Zdenek Adamec
26.Sep.21 Burgtheater
Gorki / Stone: Komplizen
10.Okt.21 Burgtheater
Poe: Der Untergang des Hauses Usher
23.Okt.21 Burgtheater / Akademietheater
Kirkwood, Lucy: Moskitos
29.Okt.21 Burgtheater
Erdmann: Der Selbstmörder
20.Nov.21 Burgtheater
Horvath: Geschichten aus dem Wiener Wald
12.Dez.21 Burgtheater / Vestibül
Greig, David: Monster
18.Dez.21 Burgtheater / Akademietheater
Fritz, Marianne: Die Schwerkraft der Verhältnisse
11.Jän.22 Burgtheater
Icke, Robert: Die Ärztin (nach Schnitzler)
19.Feb.22 Burgtheater
Sartre: Geschlossene Gesellschaft
24.Feb.22 Burgtheater / Akademietheater
Stephens, Simon: Am Ende Licht
26.Feb.22 Burgtheater / Kasino
Melle, Thomas: Ode
13.Mär.22 Burgtheater / Akademietheater
Wentz, Lisa: Adern
29.Mär.22 Burgtheater
Shakespeare: Der Sturm
02.Apr.22 Burgtheater / Akademietheater
Goetz, Rainald: Riech des Todes
05.Apr.22 Burgtheater
Crimp / Rostand: Cyrano de Bergerac
11.Apr.22 Burgtheater / Akademietheater
Zeller, Felicia: Der Fiskus
23.Apr.22 Burgtheater
Euripides u.a.: Die Troerinnen
29.Apr.22 Burgtheater / Akademietheater
Kracht: Eurotrash
Ein Angebot, das einer Analyse wert wäre, die ich hier nicht unternehmen will. Ehrlich zu vermerken ist allerdings, dass ich mich bei vielen der Titel überhaupt nicht mehr daran erinnere, was da eigentlich los war (und warum ich mich dafür interessieren sollte). So viel Entbehrliches unter den „neuen Stücken“! Und Tatsache ist, dass kein einziger der Abende, auch nicht die Minichmayr als Maria Stuart oder Moretti im Sartre (um von der Wiener Schauspieler-Sucht zu reden), mir als unvergesslich in Erinnerung geblieben ist. Als nötig. Als bereichernd (das gibt es). Als: Das muss ich gesehen haben.
Was soll ich mir anschauen? fragen mich viele Leute, weil sie wissen, wie viel ich gesehen habe. Ich würde mich, auch bei Josefstadt und Volkstheater, in dieser Spielzeit zu keiner einzigen Empfehlung hinreißen lassen. Es wird Theater gespielt, weil sehr viele Leute davon leben, dass der Vorhang aufgeht (und den Rest begleicht der Staat wie zuletzt Josefstädter Millionenschulden, von denen nicht mehr die Rede ist, weil der Direktor die Gunst der Medien genießt). Aber wo wäre unser ehrliches Interesse geweckt worden – anstelle dessen bekommt man überall nur aufgezwungene Ideologie (und teilweise auch kläglich schlechte Schauspieler).
Föttinger, dessen Josefstädter Ensemble immer blasser geworden ist, will es nächste Saison besser machen, mehr Schauspielertheater im alten Sinn liefern, und ja, wenn Robert Meyer im „Wald“ spielt, kommt das Publikum, und sei es nur aus Neugierde, ob er das noch kann nach all den Jahren Operette und Musical, wo er in „seiner“ Volksoper mitwirkte, ohne dass eine tiefere Notwendigkeit bestanden hätte (außer für ihn und sein Ego). Und die Leute werden auch in „Ritter, Dene, Voss“ gehen, lustvoll vergleichend, wie die „Neuen“ es im Vergleich zu den „Originalen“ machen.
Ob das allein die Auslastungszahlen wieder in die Höhe reißt? Zu oft habe ich schon bei zweiten Vorstellungen in der Josefstadt gesehen, dass der Dritte Rang einfach gesperrt war. Von dem, was sich im gähnend leeren Zuschauerraum des Volkstheaters tat, ganz zu schweigen. Und die schlechten Erfahrungen sitzen fest im Gedächtnis.
Wo ist die Lösung? Zu „normalem“ Theater wird sich ein Herr Voges am unglückseligen Volkstheater nicht verstehen, und die Premierenvorschau des Burgtheaters enthält wieder vieles, das wie Zwangsbeglückung aussieht, und bei den „Klassikern“ kommt es darauf an, was die Damen und Herren Regisseure daraus machen (in dieser Saison haben sie vieles verhunzt).
Worauf will ich hinaus? Darauf, dass ich keine Lösung habe. These und Antithese führten zur Synthese, heißt es. Antithese hatten wir lange genug. Synthese mag ein Drahtseilakt sein – könnte aber gelingen, wenn er von Leuten unternommen würde, die das Theater und das Publikum nicht a priori von Herzen hassen und verachten. Denn solche haben sich ausreichend auf unseren Bühnen tummeln dürfen. Schluß damit. Wo, bitte, sind die Leute, die das Theater lieben?
Die Aufforderung: Macht Neues! kann nicht länger das Publikum außen vor lassen. Das hat nämlich seine Macht erkannt. Nicht hinein gehen, nicht Zeit und Geld (und gar nicht so wenig davon!) opfern. Dass es aber ohne Publikum nicht geht – die schmerzliche Erkenntnis hat die laufende Saison den Wiener Theatermachern beschert.
Renate Wagner