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APROPOS: Unser tägliches Opfer gib uns heute

02.08.2018 | Apropos, Feuilleton

APROPOS:
Unser tägliches Opfer gib uns heute

Heute ist es Daniele Gatti. Auch ein Name der A-Klasse. Sonst ist es ja halb so schön. Das Königliche Concertgebouw Orchestra hat seinen Chefdirigenten rausgeworfen. Die Vorwürfe sexueller Belästigung durch die Sängerinnen Alicia Berneche und Jeanne-Michele Charbonnet gehen allerdings auf die Jahre 1996 und 2000 zurück… Die Beschwerden von Musikerinnen des Orchesters dürften neuerer Natur sein.

Ein Mann, ein Italiener alter Schule wohl, versteht die Welt nicht mehr: „Jedesmal, wenn ich einen Annäherungsversuch an jemand unternommen habe, habe ich das in der vollen Überzeugung getan, dass es von gegenseitigem Interesse getragen wurde.“ Mehr kann man nicht verlangen. Im übrigen verwahrt er sich in einem Statement seines Anwalts gegen die Anwürfe und wird sich gegen diese „Schmutzkampagne“ wehren.

Und bitteschön, was uns Frauen betrifft – so wie wir uns nicht übers schlechte Fernsehprogramm aufregen sollen, weil wir es ja nicht anschauen müssen, können wir einem Mann mehr oder minder unmissverständlich (bis zur Ohrfeige, wenn er allzu aufdringlich ist) sagen, dass wir das nicht wünschen… und die Sache hat sich. Wir entscheiden ja schließlich mit.

Also: Ich fürchte, wenn das so weitergeht, werden die Beziehungen zwischen den Geschlechtern irreparabel gestört. Wie soll das „Anbandeln“ funktionieren, wenn – wie in einem frühen Stadium der Debatte Catherine Deneuve meinte – das Tätscheln eines Knies zur Todsünde wird? Da muss doch jeder Verheiratete froh sein, wenn er einen Partner zuhause hat, mit dem er / sie, wer gerade Lust hat, ohne vorherige feierliche Anfrage… was immer.

Aber das Ganze geht ja noch viel weiter. Überlegen wir uns doch bitte einmal grundsätzlich: Man hält uns die Fehler der Vergangenheit immer wieder vor, mit der Aufforderung, daraus zu lernen. In Ordnung. Aber das kann doch nicht nur in eine Richtung gehen.

Wenn die Richtung beispielsweise „Hexenjagd“ – „McCarthy“ – „#metoo“ anzeigt, und das überdeutlich, sollte uns das nicht zu denken geben?

Die überhitzte Hysterie der selbstgefälligen Gutmenschen, die gar nicht genug daran tun können, „Bösewichte“ an den Pranger zu stellen – sind sie besser als jene Menschen im Mittelalter, die sich ein Volksfest aus dergleichen machten und über die wir den Kopf schütteln?

Unser Volksfest findet in den Sozialen Medien statt, und wenn wir diesmal nicht, statt den Kopf nur zu schütteln, kühlen Kopf bewahren – wer weiß, wo man noch hingeschwemmt wird.

Zum „Heißa, die Hex ist tot“ – und die Hex’ war ein Mensch, mit dem andere ein Hühnchen rupfen wollten und jetzt, wo die Möglichkeit gegeben war, es flugs getan haben. Und ein Leben und eine Karriere sind zerstört.

Renate Wagner

 

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