Unser aller Nahrungsmittel, Lebensmittel?
Manchmal lässt einen sein Gedächtnis in Stich. Ich weiß nicht, in welchen russischen Roman jener Idealist vorkommt, dem vorgehalten wird, die arme Bevölkerung hätte kaum genug zum Leben, wie sollten sie da Bücher lesen? Und er antwortet: Sollen sie doch barfuss gehen, wenn sie nur Shakespeare lesen…
Alle durch Corona unterbeschäftigten bis arbeitslosen Künstler führen heute die Formulierung im Mund, Kunst sei ein nötiges „Nahrungsmittel“ für die Menschen. Da bin ich mir nicht so sicher. Sich Kunst zu leisten, erfordert Freizeit, erfordert Geld, erfordert einen Bildungsrahmen, der das Angebot an Theater, Oper, Literatur, Museen für den Einzelnen auch sinnhaft macht. Allein daran erkennt man, dass sich dieses Angebot, das in den „fetten Jahren“, die wir hinter uns haben, überbordet ist, im Grunde nur an ein Segment der Bevölkerung wendet.
Wie schnell der Mensch, wenn er andere Sorgen hat, bereit ist, auf dieses „Nahrungsmittel Kunst“ zu verzichten, zeigt sich allerorten – der schleppende Besuch in den Museen, die keinesfalls gestürmten Veranstaltungen (wenn selbst die Salzburger Festspiele Probleme haben, ihr verkleinertes Kartenangebot an Frau / Mann zu bringen – oder hat sich herumgesprochen, dass „Elektra“ und „Cosi“ doch nicht gar so toll sind?).
Allerorten wird klar, dass die biblischen „mageren Jahre“ da sind, dass die Überflussgesellschaft zu Ende ist. Auch die Franzosen wissen, dass sie nicht mehr grenzenlos Champagner verkaufen können. Wie heißt es bei Brecht? „Die Verhältnisse, die sind nicht so.“ Nicht mehr. Nicht, wenn sich die Parameter so verschieben wie derzeit, wo für viele blanke Existenznot angesagt ist. Außerdem, machen wir uns nichts vor – auch die Steinzeitmenschen haben erst angefangen, die Wände ihrer Höhlen zu bemalen, als das wirklich Lebensnotwendige (das Jagen und das Essen) erledigt war. Kultur – die schönste Draufgabe der Welt. Die wichtigste (auch wenn manche dem Sport eindeutig den Vorzug geben werden).
Freilich, wenn sich ein so kluger Mann wie Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder in einen Diskussionskampf einlässt, den er nicht gewinnen kann und soll, wird es bedenklich. Denn er meinte (Zitat):
„Ich kann diesen Satz nicht nachvollziehen ‚Wir bestehen auf unser Recht, Theater zu spielen, weil es ein Lebensmittel ist.‘ Ich habe einen anderen Begriff von Lebensmittel, einen handfesteren: Es sollen lieber mehr Menschen leben können – und wir kommen jetzt einmal ohne Theater aus.“
Aber Schröder soll bedenken, dass sein Museum, dass die Museen sich im Grunde auf derselben Ebene bewegen wie die Theater. Denn schließlich fällt alles in die großen Begriffe „Kunst“ und „Kultur“, die das zusammen fassen, womit sich der arbeitende Durchschnittsmensch in seiner Freizeit befasst, um sein Hirn und wohl auch seine Seele zu beglücken. Und wofür er derzeit keinen Kopf (und vielleicht auch kein Geld) hat.
Lassen wir die Hoffnung zuletzt sterben: Vielleicht kann es im Herbst (der ja schon ziemlich nahe ist) wieder ein langsames Anlaufen des „Betriebs“ geben. Wünschen wir, dass die Menschen bald wieder den Kopf und das Geld dafür haben, sich die „Kunst“ im weitesten Sinn zu geben, die wir so üppig genossen haben, ohne so richtig dankbar dafür zu sein. Krisen sind auch für Erkenntnisse da.
Renate Wagner