Sippenhaftung, Sündenböcke, Sanktionen –
oder: Jedes Ding hat zwei Seiten
Eine Frage: Hätte England während des Krieges Künstler aus Nazi-Deutschland willkommen geheißen, die sich offen zu Hitler bekannten? Nie und nimmer, ausgeschlossen, no way.
Im Prinzip ist es dasselbe, Valery Gergiev und Anna Netrebko auszuladen, denn Putin hat sich schnell zum „Hitler“ unserer Tage, sprich: zum meist gehassten Mann, entwickelt, der in unseren Augen Unverzeihliches getan hat. Und das aus purem, persönlichem Mutwillen. (Er sieht das natürlich anders.)
Nur – ist es nicht die schlechte, alte Nazi-Sippenhaftung, die da betrieben wird, wenn Gergiev und Netrebko – gestern noch von uns allen bejubelte Superstars – faktisch von einem Tag zum anderen zu „unverwünschten Personen“ erklärt werden?
Nun, Goebbels (sorry, ihn zu zitieren zu müssen) hat einmal erklärt, warum beim Sturz eines Familienmitglieds alle anderen mitgerissen wurden. Denn schließlich haben sie auch an seinen Ehrungen und Privilegien partizipiert. Und dass Gergiev und Netrebko als „Putin-Künstler“ nicht nur ihre russische Karriere befeuert haben, dürfte wohl jenseits jeden Zweifels sein.
Und wir wollen ja nicht annehmen, dass sie (wie viele, die „Heil unserem Führer“ riefen), einfach nur Opportunisten waren, die sich aus Berechnung an die Staatsmacht heran geschmissen haben. Umgekehrt gedacht, konnte man sich der liebenden Umarmung der höchsten Politiker ja auch nicht straflos entziehen…
Sind Gergiev und Netrebko angesichts ihrer Berühmtheit jetzt die Sündenböcke, die man ausgewählt hat, um die eigene untadelige Haltung zu beweisen? Egal, wie teuer (in jeder Hinsicht) sie uns einmal waren, jetzt müssen sie geopfert werden, um „ein Zeichen zu setzen“, wie die berühmte zeitgenössische Formulierung heißt.
Hat, um das Problem wieder von der anderen Seite zu betrachten, Anna Netrebko recht, wenn sie meint, man dürfte von Künstlern keinen Offenbarungseid gegen ihr Vaterland verlangen? Das würde allerdings bedeuten, den Kuchen essen und gleichzeitig zu behalten (westliche Gagen und russische Staatskünstler-Datscha als Ausgedinge). Aber das Leben lehrt uns: „You can’t have it all“, es gibt immer wieder ein Entweder-Oder.
Und, wieder anders gesehen, wäre es nicht anständig, sich seiner ursprünglichen Haltung zu stellen, könnte die berüchtigte „Nibelungentreue“ nicht eigentlich eine edle Charaktereigenschaft sein? Wobei darauf hingewiesen sei, dass es die Engländer sind, die sagen: „Right or wrong – my country!“
Es gibt in Hebbels „Nibelungen“ eine Szene, an der man das wunderbar exemplifizieren kann. Da befinden sich die Burgunder schon gefangen in der Halle am Hof von König Etzel und werden bald darin verbrennen. Da fragt Hagen Volker, den Spielmann, der sich auch zurück ziehen könnte, hat er doch keinen Anteil an Siegfrieds Tod und müsste sich Krimhilds Rache nicht stellen:
„Ei wohl, es geht zum Sterben,
Da muß ich dich doch fragen: Stirbst du mit?“
Und Volker antwortet:
„Lebt ich nicht auch mit?“
Und doch macht Volker wissentlich mit Mördern gemeinsame Sache – und könnte sich doch umdrehen und gehen. Charakterfest und ehrenhaft? Dumm, denn er hat nur ein Leben?
Nun, den Tod verlangt ja hierzulande keiner, aber vielleicht wäre es klug für Gergiev, Netrebko und Co. einfach nach Hause zurück zu kehren und abzuwarten. Solange unschuldige Menschen im Namen ihres Landes und ihres Präsidenten zusammen geschossen werden, haben sie im Westen nichts zu erwarten.
Die europäischen Sanktionen haben eine Mauer hoch gezogen, die den Westen von Russland trennt. Auch wenn man den Krieg noch so bedauert – wer tut das nicht, außerdem sind Lippenbekenntnisse dieser Art wohlfeil – , muss man doch wissen, auf welcher Seite man stehen will. Irgendwann muss man sich entscheiden.
Zumal man es sich im Fall von Gergiev, Netrebko und Co. aussuchen kann, und das ist mehr, als den meisten Menschen möglich ist.
Dennoch, wer immer Anna Netrebko je um ihre glanzvollen Engagements, ihre teilweise vermutlich exorbitanten Gagen, ihren überdimensionalen Ruhm beneidet hat: Heute möchte wohl niemand mit ihr tauschen.
Renate Wagner