Letzte Grüße
Im Sommer nach Reichenau zu fahren, das war nicht dasselbe wie bei irgendeiner Vorstellung des Niederösterreichischen Theatersommers, wo man sich vor einer Kirche, einer Burg oder auf einem Stadtplatz rasch ein Stück ansieht, aus welchen Gründen auch immer, und wieder heimfährt. Reichenau – das war Reichenau.
Da ist man ums Kurtheater herum flaniert, hat Leute getroffen, geplaudert, Neuigkeiten ausgetauscht, wahrscheinlich flogen auch Bosheiten durch die Luft. Man ging noch schnell einen Kaffee ins gegenüber liegende Restaurant trinken, und vor der Vorstellung konnte man vor dem Haus noch rasch ein Glas Sekt nehmen, bevor man ins Theater ging, um Theater zu sehen, wie es sich gehört, zumindest nach Meinung der Wiener, die einen Großteil des Publikums stellten. Und hinterher fuhr man wohl noch ins Looshaus essen, und dann hat man sich in irgendeinem Nobelschuppen (dem Thalhof zum Beispiel) zur Ruhe begeben. Das letzte Zipferl Schnitzler-Flair.
Und am nächsten Tag dasselbe, und wieder und wieder, schließlich gab es jeden Sommer vier bis fünf Stücke, die man (nebenbei) sehen konnte… Und die Region blühte, man nennt das „Umwegrentabilität“, und das Theater blühte, und all das war die Leistung der Loidolts.
Renate und Peter Loidolt, das Intendantenpaar, die seit 1988 einen schier unglaublichen Arbeitsaufwand stemmten und im Grunde „alles“ selbst machten, Spielplan, Besetzungen, er die Bühnenbilder, sie die Dramaturgie, die Programmhefte, die aufwändigen jährlichen Hochglanz-Broschüren. Sie haben ein unbedeutendes „Kurtheater“ übernommen und „Festspiele“ daraus gemacht. Sie begannen klein, aber sehr fein mit Farkas-Sketchen, wobei die Paarung Robert Meyer und Karlheinz Hackl dafür sorgte, dass das Publikum kam (denn die Wiener fahren ihren Lieblingen überall hin nach).
Sie spielten anfangs viel Schnitzler, der schließlich im nahe gelegenen Thalhof viel geliebt hat, und Nestroy, der auch mit der Gegend verbunden war, und kaum ein erstklassiger Wiener Schauspieler, der sich ihrem Lockruf widersetzte.
Sie erweiterten das Repertoire, Tschechow und Ibsen taten es auch, und sie haben immerhin ein paar Jahre lang das Südbahn-Hotel am Semmering mit Vorstellungen, die aktweise an verschiedenen Schauplätzen des Hauses gespielt wurden (besonders spektakulär: die Terrasse), zum Leben erweckt.
Und als man ihnen ein zweites Haus im Kurpark des Ortes versagte, bauten sie einfach an ihr hübsches Kurtheater rückwärts einen Mehrzweckraum an, der das Haus nicht verschandelte und ihnen ermöglichte, ihr Angebot (die ziemlich hohen Kartenpreise wurden bematschkert, aber bezahlt) immer zu erweitern. Gegen Ende spielten sie fast jeden Tag Nachmittag und Abends an zwei Spielorten, vier Vorstellungen pro Tag. Schauspieler kamen nach Ende der Reichenau-Saison (sie reichte immer bis in die erste August-Woche) ausgepowert, aber finanziell saniert heim. (Ich habe Jürgen Wilke einmal gefragt, was einen Mann seiner Größenordung veranlassen konnte, eine winzige Nebenrolle im „Schwierigen“ zu spielen. „Hast Du eine Ahnung, was die zahlen?“ erwiderte er.)
Freilich, einen richtig guten Ruf haben sich die Loidolts in der Branche nicht erworben. Sie klinkten sich aus dem „Niederösterreichischen Theatersommer“ (der irgendwann aufgeblasen ein „Theaterfest“ wurde) aus, weil sie sich für etwas Besseres hielten. Sie bauten Stars auf und vernichteten sie – Robert Meyer sieht bei dem Namen „Loidolt“ rot. Und auch andere wurden gegangen, zuletzt Joseph Lorenz, der seit der „Schachnovelle“ der Star jedes Sommers war und ihnen mit dem Sala, dem Hofreiter und dem Bernhardi großartige Schnitzler-Interpretationen geliefert hatte – und dem man 2020 die Titelrolle in „Des Teufels General“ verweigerte. Rache ist süß – nun wird auch der ersatzweise gewählte Burgtheater-Kollege die Rolle wohl kaum in Reichenau spielen.
Denn das Programm von 2020, auf 2021 verschoben, findet auch heuer nicht statt – wieder vier durchbesetzte Produktionen nach bewährter Art. 2022 allerdings wird es keine Intendanz Loidolt mehr geben, und was der / die Nachfolger/in dann macht… Ob er / sie versucht, diese vier Stücke doch noch auf die Bühne zu bringen?
Der Rückzug des Ehepaars kam abrupt, hatte sicher mit Corona zu tun, mit der richtigen Erkenntnis, dass man ein lockeres Semmering-Event mit Flair nicht stattinden lassen kann, wenn ein doch eher überaltertes Publikum auf der Suche nach einem Test herumwankt und dann die ganze Vorstellung hindurch in seine Maske röcheln muss. Und Reichenau ohne das ganze ChiChi….?
Sicher haben die Loidolts in der richtigen Erkenntnis abgesagt, dass sie den Festspielen, auch wenn es ihre letzten gewesen wären, damit keinen Dienst erwiesen hätten. Andererseits gab es Vorwürfe des Rechnungshofes wegen nicht transparenten Finanzgebahrens, und nun haben beide Theater-Tiere, die jahrzehntelang zweifellos schwer gerackert haben, altersmäßig auch die 70er Grenze überschritten. Ein guter Zeitpunkt aufzuhören, hinter sich aufzuräumen – und im übrigen „Macht euch euern Dreck alleene!’“ zu sagen. Der Spruch, den man einem abgesetzten Sachsenkönig zuschreibt, wird auch hier passen.
Ja, aber wer soll den Dreck, pardon: die Schwerarbeit nun machen? Die Leitung der Festspiele Reichenau ist ausgeschrieben, und man kann hoffnungsfroh davon ausgehen, dass niemand in Niederöstereich so dumm sein wird wie die Wiener Verantwortlichen und es zu Voges- oder de Beer-Lösungen kommen lässt.
Schon vor zehn Jahren standen angeblich zwei Persönlichkeiten in den Startlöchern – Nicolaus Hagg, der nun auch schon die längste Zeit als Bearbeiter, gelegentlich Regisseur und meist Nebenrollendarsteller omnipräsent ist. Und Maria Happel, die zwar auch zu jenen gehört, die mit den Loidolts auf die Dauer „nicht konnten“, aber solange sie da war, verdiente Erfolge gefeiert hat. Außerdem hatte sie schmerzliche Rückschläge einzustecken – das Volkstheater hat sie nicht bekommen, obwohl jeder Theaterfreund sie für die Richtige hielt, und ob die Leitung des Reinhardt-Seminars nun ihren Elan befriedigt? In Reichenau könnte sie dann endlcih (in einer abgespeckten Fassung) die Elisabeth in „Maria Stuart“ spielen, was sie schon in Perchtoldsdorf wollte, aber da konnte wiederum Intendant Michael Sturminger keinen anderen Gott neben sich dulden. Es ist nicht einfach in der Wiener und Rund-um-Wien-Theaterlandschaft…
Außerdem müssen diejenigen, die die Nachfolge bestimmen, einen gewaltigen Spagat hinlegen. Einerseits brauchen sie diese Sommerfestspiele einfach für die sommerliche finanzielle Sättigung der Region, und dazu benötigen sie genau„dieses“ Publikum, das nicht aufs Geld schaut (Semmering-Wanderer packen ihre Butterbrote aus). Andererseits muss man nur den Standard lesen, um zu wissen, welche neuen Wege und Ausrichtungen verlangt werden – genau das, was dieses Publikum nicht will. Man weiß, wie langsam sich Dinge aufbauen. Und man weiß, wie schnell man sie zerstören kann.
Also, wer immer sich um die Festspiele Reichenau bewirbt, ist nicht zu beneiden – er spielt gegen eine erfolgreiche Vergangenheit an und muss Wünsche einer politisch korrekten Gegenwart befriedigen. O je.
Letzte Grüße für die Loidolts, nicht alles war gelungen, aber es gab viel Schönes. Und was soll man dem Nachfolger wünschen? Ehrlich – ich weiß es nicht.
Renate Wagner