Ich begehre, nicht schuld daran zu sein
Es gibt Dinge, gegen die ist man machtlos, gegen die hat man den Kampf aufgegeben. Die ersten Premieren in Bayreuth (Tcherniakovs „Holländer“) und Salzburg (Castelluccis „Don Giovanni“) beweisen erneut, was man längst weiß: Der Anspruch an Regisseure heute lautet: „Mach was Dir einfällt, ganz egal, was, und kümmere Dich nicht um die Vorlage. Was immer Du erfindest, es ist egal, es kann dies sein oder auch ganz was anderes, jede Willkür erwünscht, jede Albernheit erlaubt, jeder Schwachsinn sanktioniert. Je schräger, desto besser. Die Presse wird jubeln und das Publikum auch (entweder, weil es so viel gezahlt hat, oder weil es stolz ist, dabei sein zu dürfen).“
Die Schöpfer der Werke sind Freiwild und spielen nicht mehr mit, die Inszenierungs-Interpreten sind (neben den Intendanten) die einzigen Könige der heutigen Bühnen. Die Sänger (und Schauspieler) halten besser den Mund und machen, was von ihnen verlangt wird, sonst haben sie demnächst keinen Job mehr.
Und das Publikum, so es einigermaßen jung ist, weiß gar nicht mehr, wie die Werke – die Opern, die Theaterstücke großer, großer Komponisten und Dichter – eigentlich „gehen“. Wenn es auf der Bühne genügend Krach gibt (und dass ein Auto aus dem Schnürboden knallt, das ist doch etwas), dann hat man doch einen Event-Effekt, über den man reden kann. Ich war dabei, ich hab’s gesehen. Und „Don Giovanni“? Ähhh, also, das weiß ich jetzt nicht…
Nun geben die Herren Regisseure ja auch hochgestochene Interviews. Frank Castorf nannte es den „Interpretationsauftrag“ (er sagt „Auftrach“), der ihn treibe. (Das heißt, dass Gounods „Faust“ ohne den Algerienkrieg im Hintergrund – weil ihm der halt eben durch die Birne rauscht – nicht funktioniert und Gretchen eine Nutte ist.) Es wird viel vom „Gegenwartsbezug“ geredet, davon, „die Werke zu uns her zu holen“. Selbstverständlich, alles darf man, wenn es gut gemacht ist und gedanklich überzeugt. Wenn Robert Carsen die Händel’sche Agrippina, die zu des Komponisten Zeit als böse römische Kaiserin gemeint war und Barockgewänder trug, zu einer Firmenchefin und Intrigantin in einer Mussolini-Welt macht, geht die Rechnung auf. Das erzählt nämlich im anderen Gewand immer noch die richtige Geschichte. Dann schmeckt auch alter Wein in neuen Schläuchen.
Aber wo sind die Geschichten in den Inszenierungen geblieben, die man in letzter Zeit gesehen hat? Wo zieht man Regisseure im Namen von Komponisten und Autoren, die Großes geschaffen und etwas Bestimmtes gewollt haben, zur Rechenschaft für ihre Einfälle? Nirgends, denn das Feuilleton hat sich – vor allem, um nicht als gestrig oder gar „faschistoid“ verschrien zu werden – hier vielfach, tausendfach mit schuldig gemacht. Wer des Schreibens mächtig ist, kann alles hochjubeln (und alles herunter machen, wie es gerade opportun ist). Er kann es toll finden, wenn Neuenfels den Lohengrin-Chor in rosa Mäuse verwandelt. Mit der Sprache kann man alles machen, man kann – aus welchen opportunistischen Gründen auch immer – zurichten, verbiegen, lügen. Man sollte es bloß nicht. Nein, man sollte es nicht:
Schuld daran sind natürlich auch jene Intendanten, die stolz darauf sind, ihre Bühnen jeglicher Willkür zu öffnen, die das Zerstörungswerk, das sie in Gang setzen, bejubeln. Kommen ihnen nie Zweifel an dem, was sie da tun? Eine Theaterdirektorin hat mir einmal in einem privaten Gespräch gesagt, sie wundere sich, was sich ihr Publikum alles bieten lasse…
Ich wundere mich längst nicht mehr. Aber ich begehre, nicht schuld daran zu sein. Wie fühlt man sich als Rufer in der Wüste? Ziemlich allein.
Renate Wagner