APROPOS:
Höchster Respekt
und Bewunderung
In meiner Theaterbibliothek befindet sich ein kleiner Buch aus dem Diogenes-Verlag, das ich besonders schätze. Es stammt von Georg Hensel, dem mittlerweile verstorbenen, einst hoch geschätzten Theaterkritiker der FAZ. Das Büchlein heißt „Wider die Theaterverhunzer“ und stammt aus dem Jahre 1975 (!!!). Hensel wusste damals schon, vor fast einem halben Jahrhundert, als das, was wir „Regietheater“ nennen, gerade so richtig Fahrt aufnahm, um welch irrwitzige Fehlentwicklung es sich dabei handelt.
Ein Kollege von Hensel, Gerhard Stadelmaier, fand die kostbare Formulierung über Regisseure, die einfach machten, „was ihnen durch die Birne rauscht“, ohne Sinn und Verstand, auswechselbar, angeberisch verbrämt. Und damit leben wir nun seit Jahrzehnten.
Heute befinden wir uns in einem geistig gänzlich verbogenen Zeitalter, wo viele Menschen sich scheuen, ihre wahre Meinung zu sagen. Richard Precht, der sich auch nicht den Mund verbieten lassen möchte, analysiert, wie „Meinungen, die von der Mehrheitsposition der Leitmedien abweichen, abqualifiziert und diskreditiert“ werden.
Darum ist es umso bewundernswerter, wenn ein Mann aufsteht und offen sagt, was er von der Situation der Regie – in seinem Fall der Opernregie – wirklich hält. Und auch gleich die Konsequenzen zieht, hier nicht mehr mitmachen zu wollen.
Mir stockte immer wieder der Atem, als ich das Interview mit Philippe Jordan im „Kurier“ gelesen habe. Der Mann, der im Gleichschritt mit Bogdan Roscic angetreten ist, wendet sich nach zwei Spielzeiten von dem ab, was dieser an die Wiener Staatsoper gebracht hat – schon in der ersten Spielzeit den Schippel von Uralt-Inszenierungen, die teils zwei Jahrzehnte auf dem Buckel hatten, und die Wien als die wahren Novitäten moderner Opernregie verkauft wurden. Und alle – alle Kritiker, die in den Medien hätten aufschreien müssen – haben den Mund gehalten. Jordan sagt, was es war: „Die Antwort kann nicht sein, dass wir den ausgetretenen Weg des dahinsiechenden deutschen Regietheaters unbeirrt immer weitergehen.“
Er legt den Finger auf alle Wunden und findet auch die richtige Bezeichnung für die Entwicklung, nämlich „Irrweg“. „Ich glaube, dass sich dieser Irrweg nun mehr und mehr rächt.“ Er beklagt, dass Regisseure von heute in vielen Fällen an der Musik und das, was sie zu sagen hat, überhaupt nicht interessiert sind, Dazu kommt die Willkür der Interpretationen, die sich um das originale Werk nicht kümmern, sondern nur darum, was ihnen dazu einfallen kann: „Bei vielen, um nicht zu sagen bei den meisten der heutigen Regisseure vermisse ich aber diese gründliche Vorbereitung (wie sie Dirigent und Sänger leisten, Anm.) Etwas drumherum zu erfinden oder es auf primitive Weise zu aktualisieren, ist im eigentlichen Sinn des Wortes keine Kunst.“
Jordan beklagt auch die Hässlichkeit dessen, was auf der Bühne oft gezeigt wird (wohl als Provokation): „Aber modernes Theater muss nicht notwendigerweise jedes Mal eine ästhetische Zumutung sein.“
Und Jordan denkt an jene Leute, die den Direktoren, Regisseuren und Dramaturgen schnurzegal sind, die im Gegenteil provoziert werden sollen bis zum Geht-nicht-mehr: „Das Publikum hat eine richtige Sehnsucht, einfach wieder einmal gutesTheater zu sehen und nicht nur irgendeine Fassung von Irgendjemandem über Irgendwas“
Und er ist überzeugt davon, dass die Leute, die Theater und Oper machen, nicht wahrhaben wollen, dass ein sehr großer Teil des Publikums heute wohl zähneknirschend trotz, aber sicher nicht wegen der Inszenierungen in die Oper kommt. Und wenn die Inflation dann auch die wohlhabenden Kreise erfasst, die sich grundsätzlich Opernkarten leisten können, „da werden andere Dinge wichtiger als Opernkarten“, davon ist er überzeugt.
Jordan denkt auch an andere Opfer des heutigen Regiewahns, nämlich an die Sänger: „Und die Sänger sind überhaupt am schlimmsten dran, denn wenn sie etwas dagegen sagen, werden sie nicht mehr engagiert.“ Ich kann dazu zwei hochrangige Beispiele anführen. Als ich mit Johan Botha (seligen, unvergessenen Angedenkens) über heutige Inszenierungen reden wollte, lehnte er das Thema ab – mit genau diesen Worten: „Sonst werde ich nicht mehr engagiert.“ Und das von Botha, der zu seiner Zeit ein Spitzenstar der Branche war… Und als ich Linda Watson interviewte, hatte ich davor im Internet gelesen, dass sie sich in den USA darüber beschwert hatte, was eine Wagner-Inszenierung von Achim Freyer den Sängern antat. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie, ich möge das um Gottes Willen nicht erwähnen, diese Aussage hätte ihr schon genügend Schwierigkeiten bereitet. Auch Jordan konnte dazu etwas beisteuern: „Aber was sie (die Sänger) fast in ihrer Gesamtheit hinter vorgehaltener Hand sagen – und das höre ich täglich, ebenso wie Klagen von Zuschauern und Bemerkungen der Musiker –, stellt unserem heutigen Theater kein gutes Zeugnis aus.“
Das alles ausgesprochen zu haben, dafür gebührt Philippe Jordan höchster Respekt und Bewunderung – auch wenn ein Mann seiner Größenordnung sicherlich nicht riskiert, nach seinem Abschied 2025 abzustürzen (auch Welser-Möst stand nicht vor seinem Karriereende, als er – wenn auch aus anderen Gründen – von der Meyer-Staatsoper wegging). Aber Jordan hat sich gewiß von einer prestigeträchtigen, vermutlich hoch bezahlten Position getrennt, wie man sie nicht alle Tage findet. Und vielleicht wird er aus welchen Gründen auch immer (da gibt es viele Möglichkeiten) gar nicht bis 2025 durchhalten…
Was Bogdan Roscic betrifft, so verkündet die APA, dass er die Aussagen von Jordan nicht weiter kommentieren wollte, er wolle sich auf die laufende Arbeit mit den großen Produktionen, die anstehen, konzentrieren (wobei ein Kommentar ja vielleicht nicht so zeitaufwendig wäre wie die Vorbereitung der „Meistersinger“).
Allerdings unterstellt er, dass er es gewesen sein wollte, der Jordans Vertrag nicht erneuert habe: „Philippe Jordan und ich haben über meine Pläne zur Führung des Hauses nach 2025 schon im Sommer ausführlich gesprochen. Inhaltliche Bedenken waren dabei kein Thema, er wollte seinen Vertrag gerne verlängern, was mir aber aus anderen Gründen nicht möglich war.“
Diese „andern Gründe“ sollten vielleicht erklärt werden – denn damit wird der Eindruck erweckt, Jordan habe einfach den Weg nach vorne angetreten, um selbst seinen Rückzug zu verkünden, bevor Roscic seine „Kündigung“ ausgesprochen hätte. Wie bei manchen Ehescheidungen könnte das noch recht schmutzig werden.
Renate Wagner