So ist denn alles Heuchelei!
Ich frage mich oft, wer eigentlich die Menschen sind, die uns neuerdings eine Weltsicht diktieren, die mich fassungslos macht. An was mussten wir uns nicht alles gewöhnen – ganz abgesehen davon, dass die Welt scharf in „Gut“ und „Böse“ eingeteilt wird, ob da Länder am Prager stehen oder Parteien – eine Diskreditierung der „anderen“ Meinung, die sich mit Demokratieverständnis absolut nicht vereinbaren lässt.
Ja, und nachdem man alles Mögliche (inklusive der „Muttermilch“) schon zu Tode gehetzt hat, trifft das nun das Wort „normal“. Normal – eigentlich das vorgegebene Regelwerk. Nun aber regieren die Abweichungen. Man darf nicht mehr „dick“ sagen (ist also blind), nicht mehr „farbig“ (hat also farbenblind zu sein) und „normal“ schon gar nicht, denn das ist laut dem Vizekanzler präfaschistoid. Weil die Nazikeule ja immer noch funktioniert, so unglaublich das auch sein mag.
„Normal“ von der Natur vorgesehen ist, dass sich ein Mensch männlichen Geschlechts und ein Mensch weiblichen Geschlechts gern und freiwillig zum Sex treffen, nicht zuletzt für die absolute Notwendigkeit, das Bestehen der Menschheit aufrecht zu halten. Normal wäre auch, dass eine Generation die nächste „erzieht“ (und zwar im besten Sinn mit Bildung und Haltung).
Wenn sich die normale, demokratische Mehrheit nolens volens daran gewöhnt hat, alles, absolut alles an Minderheiten (auch Fakten wie jene, dass man im Damenklo nun Transmenschen treffen kann) zu akzeptieren, so ist das absolut okey. Jeder soll auf seine Weise mit seinem Geschlecht und seiner Sexualität glücklich werden. Und mit seinen anderen Weltanschauungen, sofern sie niemandem schaden, auch.
Aber das penetrante „Opfergeschrei“ ist längst obsolet, wenn die Stadt Wien das Parlament und die Staatsoper mit Regenbogenfarben schmückt, um Solidarität zu beweisen. Was kann man noch tun?
Nun, das „Vaterunser“ umschreiben, zum Beispiel. Da hatte doch der anglikanische Erzbischof von York, Stephen Cottrell, die hirnverbrannte Idee, dass der Beginn dieses Gebets „wegen seiner patriarchalischen Bezüge belastend auf Menschen wirken“ könnte. (Da muss man schon sehr scharf nachdenken, damit einem so etwas Abstruses einfällt). Und, ob man es glaubt oder nicht, es gab dazu auch Zustimmung!
Ob hinter diesen Gesten – dem Applaus für alles, was sich zwanghaft gegen das „Normale“ und Althergebrachte richtet – allesamt nicht blanker Opportunismus steckt, wo sich viele, sich duckend, den gängigen Sprachregelungen und akzeptierten Meinungsfloskeln anpassen, obwohl sie im Herzen ganz anders denken – das kann man in vielen Fällen sicherlich annehmen.
So ist denn alles Heuchelei, nicht wahr?
Auch in unserer Kulturwelt. Welche Lächerlichkeit, dass so viel Wirbel um den angeblich in Österreich so gefährdeten unabhängigen, kritischem, nachfragendem Journalismus gemacht wird – schauen wir uns doch unsere Kulturjournalisten an! Liebedienerei an allen Ecken und Enden, die „Bösen“ werden verfolgt, die „Guten“ geschützt (neulich benützte ein Tiroler Politiker in Bezug auf die Dissertation von Alma Zadic den Ausdruck „Welpenschutz“ – sehr niedlich), die in den Seilschaften hängen, dürfen sicher sein, dass ihnen nichts passiert (was hört man von dem Prozeß gegen André Heller, der doch gewiß betrügerisch gehandelt hat – aber weil er nicht, wie Teichtmeister „gestanden“ hat, muss man „Es gilt die Unschuldsvermutung“ hinzufügen).
Manchmal bin ich direkt erleichtert, wenn doch jemand – natürlich kein Journalist – den Mund aufmacht. Brigitte Fassbaender tat es. Nun weiß ich nicht, ob sie sich selbst um die Intendanz in Erl beworben hat, möglich wäre es, durch ihre Innsbrucker Jahre kennt sie sich in Tirol aus und wäre eine logische Besetzung für den Intendanten-Job gewesen.
Nun inszeniert sie heuer und nächstes Jahr in Erl den „Ring“ (mit sehr schöner Vorgabe: „Ich möchte diesen so klar, so nachvollziehbar und so kurzweilig wie nur möglich machen.“)
Es ist auch ihre letzte Chance für Erl, denn nach dem Sommer 2024 kommt Jonas Kaufmann als Intendant, und der wird nach ihren kritischen Bemerkungen wohl kaum große Liebe für sie hegen.
Während alle Kulturjournalisten brav mit dem Kopf genickt haben, als sei es bei der Bestellung des „Startenors“ zum Intendanten nach absolut rein objektiven Gesichtspunkten zugegangen, vermerkt Brigitte Fassbaender: So sehr sie Kaufmann als Sänger schätze, so erfülle er „kaum Kriterien der Ausschreibung“. Und sie sagt auch noch – jede Heuchelei beiseite – genau, warum es ging: „Für Kaufmann selbst in seiner Lebensphase (ist es) eine gute Entscheidung.“ Auf klar Deutsch: Natürlich, Intendant kann man immer noch sein, auch wenn man nicht mehr singen kann…Und vielleicht träumt man schon von einem Sprung von Erl in seine Heimatstadt München … Intendant der Bayerischen Staatsoper, das wäre doch eine Lebenskrönung?
Warum hat niemand vor Brigitte Fassbaender ausgesprochen, dass diese Bestellung ein „Zugeständnis an die Eventkultur (ist), bei der große Namen mehr zählen als künstlerische Qualität an sich“? Warum haben alle brav geschwiegen und applaudiert, ebenso angesichts von Klaus Bachlers Kaufmann-Festspielen zu Ostern in Salzburg? Jahr für Jahr ein Spielplan erstellt, der ihm die nächste Hauptrolle bietet. Das klassische Gemauschel, über das sich jeder empört – und alle machen’s. Ungestraft. Und der ach so „kritische“ Journalismus schweigt.
Sieht es niemand, will es niemand sehen, traut es sich niemand zu sehen?
Nein, alle sehen es, aber keiner wagt es zu sagen.
So ist denn alles Heuchelei.
Renate Wagner