Die heiligen Kühe
Ich will nicht mein Schärflein zum allgemeinen Senf der Empörung dazu geben, was bei der „documenta“ in Kassel geschehen ist, entrüstet hat man sich schon genug. Sollte man sich nicht vielmehr fragen, worum es eigentlich geht? Tatsache ist, dass mehrere „heilige Kühe“ der heutigen Gesellschaft auf einander prallten, und es ein hartes Tauziehen gab, wer stärker ist – „Ich oder Ich“, wie es bei Nestroy heißt (und das interessanterweise in einem Stück, das von Juden handelt und folglich nicht gespielt wird).
Eine „heilige Kuh“ ist die „Freiheit der Kunst“, die in unserer angeblich liberalen Welt alles erlaubt – solange es gegen die „Richtigen“ geht. Ein Papst-Titelbild mit angeschissener Soutane hat niemanden aufgeregt. Dass „Charlie Hebdo“ den Islam angriff, wo es schmerzte, wäre auch einfach durchgegangen, hätten sich die Betroffenen nicht so blutig gewehrt. Übrigens hätte mich persönlich damals niemand dazu gebracht, in das „Je suis Charlie“-Getöse einzustimmen, denn religiöse Überzeugungen zu verletzen, zählt für mich zum „No Go“. Da plädiere ich für etwas, das es längst nicht mehr gibt, nämlich Selbstzensur – sich zu fragen, ob man wirklich alles tun muss, was man tun kann.
Nun hat bei der „documenta“ in Kassel – wo man sich rühmt, die Speerspitze moderner Kunst darzustellen – das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi eine Installation namens „People’s Justice“ aufgezogen und darauf einen Soldaen mit Schweinegesicht dargestellt. Kein Zweifel, wer gemeint war, wenn dieser Soldat einen Davidstern trägt und der Schriftzug „Mossad“ auf dem Helm zu sehen ust. Da gibt es keine unschuldsvolle Erklärung, das ist genau so gemeint, wie es gezeigt wird. Und die „documenta“-Verantwortlichen sahen zuerst gar keinen Grund, diese „Freiheit der Kunst“ zu beschneiden…
Nun gibt es aber noch eine „heilige Kuh“, zumal in Deutschland und in Österreich aufgrund schuldiger Vergangenheit: der „Antisemitismus“. Und auch, wenn man dialektisch zu denken bereit ist und den Palästinensern ihren anti-jüdischen, anti-israelischen Standpunkt einräumt, heißt das nicht, dass man diesem – auf „indonesischen Umwegen“ – hierzulande Platz geben muss. Noch dazu in Form eines riesigen Banners, das man in Kassel aufzog, bevor man es nach allgemeinen Protesten wieder abräumte.
Die deutsche Politik hat, nachdem der Eklat erst einmal passiert war, schnell und deutlich Stellung genommen, vor allem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er war sich zwar gar nicht sicher, ob er eine solche „documenta“ überhaupt eröffnen sollte, fand aber dann doch deutliche Worte. Die sich gegen das Werk richteten, aber auch gegen die „documenta“-Leiter, denn Verantwortung „lässt sich nicht outsourcen“, wie er so richtig meinte. Er weiß aber auch, dass er zwischen Scylla und Charybdis laboriert, wenn er sagt: „Eine demokratische Gesellschaft darf Künstler nicht bevormunden, erst recht nicht instrumentalisieren“. Was aber, wenn die Künstler selbst ihr Werk dahingehend instrumentalisiert haben, Juden und Israel in Agitprop-Manier zu attackieren? Hätten sie doch Deutschland attackiert, die Begeisterung und Bewunderung für ihrem „Mut“ wäre ihnen sicher gewesen… (anhnd dessen könnte man darüber nachdenken, was heute sein kann und sein darf).
Aber wir haben es hier ja mit noch einer „heiligen Kuh“ unserer Gesellschaft zu tun – die einst Unterdrückten und Ausgebeuteten. Bei der Gruppe Taring Padi handelt es sich um Indonesier, also Mitglieder jener „Dritten Welt“, vor der sich der Westen nun in Verantwortung von einstigem kolonialem Unrecht krümmt (wobei man sich fragen muss, wie viele Jahrhunderte lang man sich für die Vergangenheit entschuldigen muss). Nach heutigem Bewusstsein (oder dem, was öffentlich dafür ausgegeben wird) können ja die einstigen Opfer nichts falsch machen. Und wenn doch? Jedenfalls haben sich die „documenta“-Verantwortlichen sicher auch davor gefürchtet, ausgerechnet eine Gruppe der Dritten Welt (wie man heute ja wohl auch nicht mehr sagen darf) zu zensurieren.
Das „Kunstwerk“ abbauen, allgemeine Empörung nachher (ein Charakteristikum unserer Zeit), Köpferollen, aber alles zu spät. Der Schaden ist angerichtet. Und die Zweifel in alle Richtungen bleiben. Gibt es zwischen all diesen „heiligen Kühen“ überhaupt einen Weg durch? Freiheit der Kunst? Antisemitismus? Rechte der einst vom Kolonialismus Ausgebeuteten?
Die „documenta“ hat uns wieder einmal vor Augen geführt, wie schwierig es ist, im Minenfeld der Gegenwart Kunst zu machen. Denn, wie wir wissen, Kunst ist immer politisch…
Renate Wagner