Der belohnte Wortbruch
Man soll niemals „Nie“ sagen. Ich war in der Wiener Staatsoper. Zum ersten Mal seit dem 28. September 2021, und damals habe ich geschworen, das Haus in der Ära Roscic nie wieder zu betreten. Und dann kann über Wolfgang Habermann, der die „Merkerianer“ in Rundmails mit Nachrichten versorgt, die Ankündigung, dass eine (mir unbekannte) Dame ihre „Siegfried“-Karte verschenken würde.
Und da wurde ich schwach. Nicht so sehr wegen Richard Wagner, obwohl er mein Opern-Gott ist, aber ich kenne seine Werke recht gut. Das allein hätte mich nicht in die Oper gebracht. Aber dass der von mir doch sehr geliebte Klaus Florian Vogt in der Titelrolle angesetzt war – da konnte ich nicht widerstehen. Ich meldete mich bei Wolfgang, ohne mir eine Chance auszurechnen, vermutlich würde sich jedermann auf die Karte stürzen. Nun, ich bekam sie. Gott sei Dank.
Es war ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Abend, wobei die Direktion des Hauses vermutlich in Panik-Modus war. Der aus der Met wohl bekannte Bassbariton Eric Owens, der den ersten Akt als Wanderer zwar etwas angestrengt, aber keinesfalls indiskutabel gesungen hatte, konnte offenbar nicht mehr weiter, wie Bogdan Roscic vor dem 2. Akt vor dem Vorhang berichtete. Aber auch, dass Tomasz Konieczny den Abend rettend einspringen würde. Sicher kein Spaß, so Hals über Kopf, die Dankesworte waren angebracht.
Allerdings ereignete sich dann etwas Peinliches – denn bei der Ankündigung von Konieczny brach das Publikum in derart frenetischen Jubel aus, als sei hier mindestens die ganze polnische Gemeinde im Haus versammelt. Und das war unfair zu Eric Owens für seinen heldenhaften Auftritt, der nach der „Walküre“ nicht noch einmal absagen wollte. Er kann ja nichts dafür, dass er nicht Konieczny ist und keine „Hausmacht“ hat.
Tomasz Konieczny war mit dem ersten Akt um das Filet-Stück der Wanderer-Partie (den „Ring“-Quiz mit Mime) gekommen, hatte nun nur noch die Szenen mit Alberich, Erda und Siegfried, aber er war mit seiner hart-metallischen Stimme und seiner Erfahrung mit dieser „Ring“- Inszenierung (die er gefühlsmäßig hundertmal gesungen haben muss) ein souveräner, stimm-mächtiger Göttervater. Besonders schön geriet die Szene mit Siegfried, von beiden Darstellern so unaggressiv wie möglich angelegt und dadurch fast ergreifend – dass die Begegnung zwischen Opa und Enkel nicht gut ausgeht, das steht bei Richard Wagner.
Die Entdeckung des Abends war für mich der aus Linz entliehene Mime des Matthäus Schmidlechner, ein schlechtweg faszinierender Interpret der Rolle, mit der richtigen scharfen Stimme und schneidenden Präzision – großartig, und dabei nehme ich bei Heinz Zednik Maß.
Schön, Ain Anger als Fafner wieder zu sehen, eindrucksvoll Michael Nagy als hier nur zänkischer Alberich, interessant die Begegnung mit dem prachtvollen Alt von Noa Beinart als Erda, glockenstimmig der Waldvogel von Maria Nazarova.
Ich habe die Karriere von Ricarda Merbeth seit ihren Bayreuther Anfängen als Freia und Gutrune verfolgt und finde es wirklich bemerkenswert, wie sie sich im Lauf der letzten zwanzig Jahre alle Wagner-Heroinnen erobert hat. Die Brünnhilde gelang stimmlich vielleicht nicht lupenrein, aber in der Emotion und dem leidenschaftlichen Einsatz sehr schön.
Aber ich war ja wegen Klaus Florian Vogt gekommen, den ich zu meiner Schande unterschätzt hatte. Bewundernswerter Lohengrin (für mich der Beste von allen), schöner Parsifal, dazu Stolzing und Erik, darüber hinaus habe ich mir diesen himmlisch schönen Wagner-Tenor nicht vorstellen können. Und dann singt er den Tannhäuser und nun Jung-Siegfried – und wie! Mit einem leichten Metallkern, den sich die Stimme zugelegt hat, ohne die geringsten Schwierigkeiten oder Ermüdungserscheinungen (eine Rolle, die der leider verstorbene, machtvolle Johan Botha nie singen wollte, weil sie einen kaputt macht, wie er meinte). Und was ist das für ein Jung-Siegfried! Kein töricht-torkelndes Kind. Kein verblödeter Schlagetot, der mit dem Bären tanzt. Kein zynischer Brutalinski – all das hat man zu seinem Leiden schon gesehen. Sondern ein junger Mann, der sich über seine Herkunft und seine Umwelt den Kopf zerbricht. Der vielleicht naiv ist, aber keinesfalls dumm. Der – wunderschön! – beim Anblick Brünnhildens („Das ist kein Mann!“) zwischen Panik und Entzücken schwankt, unsicher gegenüber der Frau und doch entschlossen, sie zu erobern (und am Ende wälzen sich wieder zwei Wotans-Kinder bzw. Enkel in selig-sexueller Umarmung – hoffentlich verbietet man das nicht demnächst!). Kurz, seit Peter Hoffmann (der den Siegfried übrigens nie gesungen hat) hat es keinen überzeugenderen Wagner-Helden (für ein altmodisches Publikum natürlich) gegeben, einer, der seine Figur nicht in den Schmutz tritt, sondern ihr alles gibt, was an Herz, Seele und Poesie drinnen steckt.
Ja, und da war dann noch Franz Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker. Ein wahrhaft inspirierter Abend von beiden Seiten, über weite Stellen ein Klangwunder, das die Geschichte nicht nur begleitet, sondern auch selbst erzählte. Und das soll der letzte „Ring“ von Welser-Möst gewesen sein? 63 ist doch kein Alter! Jetzt, wo er es soooo gut kann! Ein Jammer.
Moralisch mag es ja verwerflich sein, dass ich für meinen Wortbruch, nicht mehr in die Roscic-Oper zu gehen, mit so viel Wagner-Glück belohnt wurde. Ich werd’s nicht wieder tun, aber in diesem Fall bin ich froh, dass ich es getan habe.
Renate Wagner