Das Lesen der Journale
„Die Situation ist nicht ungefährlich“, lässt Festspielintendant Markus Hinterhäuser die kulturell interessierte Mitwelt wissen. Zumindest, wenn man sich bei orf.at informiert. Greift man auf die APA zurück, von der die meisten österreichischen Medien ihre Informationen beziehen, wenn sie zu faul sind, selbst zu recherchieren, heißt die Schlagzeile anders. „Salzburger Festspiele laut Hinterhäuser ‚nicht in Gefahr’.“
Also, was jetzt? Gefahr oder nicht Gefahr? Der zitierte Satz lautet dann (in beiden Medien): „Wir sind nicht in Gefahr, aber die Situation ist nicht ungefährlich“, sagte Salzburgs Festspielintendant Markus Hinterhäuser im Ö1-Mittagsjournal. Vielleicht sollte man nicht in einen Satz gleich zwei widersprüchliche Aussagen packen. Andererseits – wie immer es ausgeht, nachher kann man auf jeden Fall sagen, man hätte „es ja gesagt“. Absicherung pur.
Und für Leser, die den Journalisten ein bisschen auf die Finger schauen, ein typisches Beispiel dafür, wie man Sachverhalte manipulieren kann. Die einen wollen beunruhigen. Die anderen wollen beruhigen. Wie es halt gerade passt. Wer immer je mit dem „Schreiben“ befasst war, weiß genau, dass alles und dessen Gegenteil möglich ist. (Es ist nicht einmal schwer, wenn man es kann. Nur Meinung darf man keine haben.) Arthur Schnitzler hat es in einem Theaterstück behandelt, das „Fink und Fliederbusch“ heißt und sehr amüsant ist. Im wahren Leben ist es das nicht. Und gerade heute, wo die Situation immer schlimmer wird, muss man kritisch gegen die Manipulationen „anlesen“.
Es muss uns doch klar sein, dass die Medienwelt dieses Spiel ununterbrochen spielt. Und dass man, obwohl man natürlich „das Geschriebene lesen“ muss (weil man es ja im Gegensatz zum Ochs von Lerchenau glücklicherweise kann), gar nicht kritisch genug überprüfen kann, was man da vorgesetzt bekommt. Sich immer fragen muss: Welche Meinung will man mir da verkaufen – und warum?
Es gibt so unendlich viele Möglichkeiten der Manipulation. Verschweigen und Auslassen zum Beispiel. Der neue Held heißt George Floyd, und er ist zweifellos ermordet worden. Aber ein wirklich unschuldiges, makelloses Opfer war er nicht. Wikipedia drückt sich unendlich vorsichtig aus, aber klar wird – er hat Jahre im Gefängnis verbracht, wurde neunmal wegen Straftaten verurteilt, und wer wegen „Raub mit einer tödlichen Waffe“ vor Gericht steht, gehört ja wohl fast in die Kategorie der Schwerverbrecher. Davon hört man allerdings nichts, außerdem ist er ja „brav“ geworden. Aber es wäre korrekter gewesen klarzustellen, dass Floyd nicht unbedingt die Voraussetzungen zum neuen „Heiligen“ mit bringt. Aber es bestand wohl kaum Interesse, den neuen Helden – der ein Opfer geworden ist – ehrlich darzustellen…
Zumal, wenn so viele alte Helden von den Sockeln stürzen, wozu eine anheizende Presse ihr nicht geringes härflein beiträgt. Columbus fuhr über den Atlantik und musste nach der Kenntnis seiner Zeit erwarten, am Horizont über den Abgrund zu stürzen – eine ungemein mutige Leistung (vor allem, wenn man sich einmal die drei fragilen Schiffchen angesehen hat, mit denen er die Fahrt ins Ungewisse wagte). Dafür stürzt man sein Denkmal, denn „Kolumbus steht für Völkermord“. Das ist neu.
Und was ist mit Churchill? Immerhin hat dieser Mann England nicht nur durch den Zweiten Weltkrieg, sondern auch zum Sieg geführt. Und der Dank? Man beschmiert sein Denkmal und schimpft ihn einen „Rassisten“. Selbst, wenn er es nach dem heutigen Zeitgeist (der nicht der Zeitgeist seiner Epoche war) gewesen sein mag – setzt das all seine Leistungen außer Kraft? Muss alles vor den Forderungen eines neuen „Tugendterrors“ bestehen (wie es Thilo Sarrazin, der Mann mit den bei Frau Merkel „unerwünschten Meinungen“, schon 2014 in einem Buch genannt hat)? Eines neuen, brutalen Meinungsterrors, vor dem man sich nur entsetzen kann?
Wir können die Vergangenheit nicht umschreiben, nur weil sie uns nicht passt, auch wenn Zeitungen und Soziale Medien uns noch so sehr aufhetzen wollen. Wir könnten es nur besser machen als unsere Vorfahren. Aber das wäre anstrengende Arbeit. Schreien, demonstrieren, randalieren, und beschuldigen, beschuldigen, beschuldigen, ist viel einfacher – und man fühlt sich so gut dabei.
Die Welt ist verrückt geworden. Und viele Menschen, die sinnlos brüllend auf die Straße gehen, kommen „vom Lesen der Journale“, wie es im Vorspiel zu Goethes „Faust“ heißt. Und sind nachher „so klug als wie zuvor“. Oder eigentlich – dümmer. Viel dümmer.
Renate Wagner