Russische Rarität in Amsterdam:
„Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und dem Mädchen Fewronia“ von Nikolaj Rimskij-Korsakow (Premiere: 8. 2. 2012)
Das Bühnenbild, das Fewronia (Svetlana Ignatovich) im Wald im Gespräch mit der Natur zeigt, erhielt vom Publikum Sonderapplaus
(Foto: Monika Rittershaus)
Seit Jahren bringt De Nederlandse Opera in Amsterdam nicht nur Klassiker, sondern neben zeitgenössischen Opern und Uraufführungen immer wieder auch selten gespielte Werke der Opernliteratur. So hatte am 8. Februar 2012 „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und dem Mädchen Fewronia“ von Nikolaj Rimskij-Korsakow Premiere, deren Uraufführung 1907 in St. Petersburg war. In Österreich war das Werk1969 in Graz und zuletzt 1995 bei den Bregenzer Festspielen zu sehen.
Der Inhalt der Oper in vier Akten, deren Libretto von Wladimir Iwanowitsch Belskij stammt, in Kurzfassung: Das Mädchen Fewronia, das mit den Tieren des Waldes Zwiesprache hält und alles Lebendige – Tiere wie Pflanzen – liebt, wird vom Fürstensohn Wsewolod zu seiner Frau erwählt. Als die Tataren in Klein-Kitesch einfallen, kann Fewronia durch ihre Gebete Groß-Kitesch unsichtbar machen und vor der Vernichtung retten. Mit dem nach dem Kampf verblutenden Wsewolod geht Fewronia in das ewige Leben ein – und sie feiern in der paradiesischen, unsichtbaren Stadt ihre Hochzeit.
Der seit langem international erfolgreiche russische Regisseur Dmitri Tcherniakov arbeitete in seiner Inszenierung recht drastisch den Gegensatz von Märchen und Realität heraus. Während er den ersten und vierten Akt sehr poetisch inszeniert, wird der zweite barbarisch grausam gezeigt. Die Tataren, die in Klein-Kitesch einfallen, sind eine räuberische Mordbande, die mit ihren Kalaschnikows fast alle Einwohner niedermäht. Auch überzeichnet er die Figur des Grischka Kutjerma als Clown, der fast nur aggressiv auf seine Umgebung reagiert. In epischer Breite läuft der letzte Akt mit der Hochzeit Fewronias und dem Prinzen ab, wobei der Regisseur den nicht unlogischen Einfall hatte, ihn als Traum zu deuten.
Viel Applaus heimste Tcherniakov für die Gestaltung der Bühne ein. Schon das erste, märchenhaft anmutende Bühnenbild, das Fewronia im Wald in Zwiesprache mit der Natur zeigt, wurde vom Publikum mit Beifall überschüttet, noch ehe der erste Ton aus dem Orchestergraben erklang. Desgleichen das Bühnenbild im vierten Akt mit vier dicken, nackten Baumstämmen. Die zum Werk passenden Kostüme entwarf der Regisseur gemeinsam mit Elena Zaytseva, für die vielen kreativen Lichteffekte (ein Beispiel: im Tatarenakt ging für Sekunden symbolisch das Licht im Zuschauerraum des Opernhauses an) war Gleb Filshtinsky verantwortlich.
Als Mädchen Fewronia brillierte die russische Sopranistin Svetlana Ignatovich, die 2010 von einer Fachjury zur Nachwuchssängerin des Jahres gekürt wurde. Mit ihrer Anmut und ihrer glockenreinen Stimme, durch die sie immer wieder ihre von Sanftheit geprägten Gefühle auszudrücken verstand, begeisterte sie das Publikum sosehr, dass sie am Schluss spontan Jubel und Stehende Ovationen des gesamten Opernhauses erhielt. Eine wahrlich seltene Beifallsdemonstration im heutigen Opernbetrieb!
Ähnlich große und verdiente Zustimmung gab es für den britischen Tenor John Daszak in der Rolle des Grischka, der eine schauspielerische Glanzleistung bot. Seine Clownerien, in denen er sogar kleine Kunststücke zeigte, gepaart mit teils Unterwürfigkeit gegenüber zwei Adeligen, teils Aggressivität gegen andere Mitmenschen, war von darstellerischer Brillanz. Rührend die Szene, in der er sich gegen Fewronia wild gebärdet und sie ihm als Reaktion die Wange streichelt, furchterregend seine Schlussszene, als er dem Wahnsinn verfällt.
Der russische Tenor Maxim Aksenov hatte als Prinz Wsewolod seinen stärksten Auftritt mit seiner Arie als Schwerverwundeter im dritten Akt, als er, immer wieder zusammenbrechend, seine Gefühle zum Ausdruck brachte. Die beiden tatarischen Anführer Bedjai und Burundai wurden vom kroatischen Bass Ante Jerkunica und vom russischen Bass Vladimir Ognovenko eindrucksvoll gespielt und gesungen. In der kleinen Rolle des Guslispielers konnte der russische Bass Gennady Bezzubenkov seine sonore Stimme einbringen. Mit einer großen Bühnenpräsenz wartete der russische Bass Vladimir Vaneev, der als Fürst im dritten Akt und in der Hochzeitsszene am Schluss stimmlich wie darstellerisch glänzte.
Aus dem großen Ensemble, das auch die kleinste Rolle stimmlich wie schauspielerisch ausfüllte, seien noch genannt: der russische Bariton Alexey Markov als des Prinzen Freund Fjodor Pojarok, die russischen Mezzosopranistinnen Mayram Sokolova als Knabe und Margarita Nekrasova als Alkonost, der australische Tenor Hubert Francis als Bärenführer und die amerikanische Sopranistin Jennifer Check als Sirin. Die beiden Adeligen wurden von zwei niederländischen Sängern gegeben, dem Tenor Morschi Franz und dem Bariton Peter Arink.
Sehr eindrucksvoll agierte in den Massenszenen der stimmgewaltige Koor van De Nederlandse Opera (Einstudierung: Martin Wright) und der Nederlands Concertkoor, der im 2. Akt die Tataren darzustellen hatte (Einstudierung: Boudewijn Jansen). Ein besonderes Verdienst für den musikalisch erstklassigen Abend gebührt Marc Albrecht, dem Chefdirigenten der Niederländischen Oper, der das Nederlands Philharmonisch Orkest zur Hochform führte. Die vielschichtige, farbenreiche und naturverbundene Partitur des Komponisten wurde mit solch klanglicher Brillanz wiedergegeben, dass das begeisterte Publikum schon vor dem letzten Akt den Dirigenten und das Orchester mit einem Beifallsorkan überschüttete und am Schluss sie wie auch das gesamte Leadingteam mit Stehenden Ovationen und Bravorufen belohnte.
Udo Pacolt, Wien –München