Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

AMSTERDAM bzw. HANNOVER: DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG

17.06.2013 | KRITIKEN, Oper

AMSTERDAM/DNO – 4.6.
HANNOVER/ Staatsoper – 8.6. und 16.6.

DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG

 Die Premieren zweier Inszenierungen der „Meistersinger von Nürnberg“ innerhalb einer Woche hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Die eine bot eine Fülle von Gedanken zu diesem Werk, fast zu viele, während die andere an einer Verflachung, ja einer Verdummung litt.

Amsterdam: Die Meistersinger von Nürnberg

Schlussapplaus in Amsterdam. Zweiter von links ist „Beckmesser“ Adrian Eröd. Foto: Klaus Billand

Dass David Alden in Amsterdam den Blick eher auf eine dunkle Seite dieser Welt hinter den Butzenscheiben wirft, sieht man allein an den Nachtwächter, den er hier als Sensenmann über die Bühne laufen lässt. Dieser Moment macht bereits betroffen, aber wie vieles andere in dieser Inszenierung auch, greift Alden diese Idee nicht wieder auf. Kleine virtuose Tanzschritte darf der schwarzgewandte Chor ab und zu machen, die kurzweilig anzuschauen sind, aber uns letztlich nicht weiter bringen.

Spannend wird es, wenn wir den Treffpunkt der Meister besichtigen: eine unterirdische Restaurierungswerkstatt in der die Meister in liebevoller Kleinarbeit (erkennbare) Kleinode der Nürnberger Kunstgeschichte behandeln und somit für die Zukunft sichern. Und das Kunsthistorikerherz schlägt im Übrigen noch höher bei dieser insgesamt recht einfallsreichen visuellen Unterstreichung der Tätigkeiten der Meister. Auch dieses Motiv wird nicht wieder aufgegriffen. Alden bietet eine interessante und durchaus vertretbare Lesung des Texts bei Walthers Probegesang: Pogner scheint zunächst begeistert von Stolzings Auftritt, sieht sein Töchterlein gewissermaßen in adligen Kreisen aufsteigen, und seine Begeisterung wird anfänglich auch von den anderen Meistern geteilt – bis Beckmesser die Stimmung ein für allemal umschlagen lässt. Doch diese gutbeobachtete Idee wird im Verlauf der Inszenierung nicht weiter geführt.

Und so geht es weiter, eine Folge anregender visueller Ideen und kleine Einblicke in Charaktere und Gesellschaft – trotz einer etwas distanzierten Personenführung und stilisierten Bühne – , die aber nirgendwo hinführen. Gepfeffert wird das alles mit ein bisschen Slapstick (Dandy Beckmesser entlarvt sich am Höhepunkt seiner Darbietung am Schluss auch noch als Cross-Dresser) und ein Paar Insiderwitze: z.B. das Foto von Eduard Hanslick an der Wand der Schlafzimmerkulisse, auf der Beckmesser sein Lied vorträgt.

Am Eindringlichsten war jedoch der Schluss. Walther lehnt die Meisterwürde ab, nimmt seine frischersungene Braut bei der Hand und zieht sie weg. Sachs geht zum einem Rednerpult, hält seine dramatische Schlussansprache und kehrt zum Paar an der Vorderbühne zurück. Walther zieht Eva weiter, doch diesmal zieht Eva zurück und beide bleiben stehen. Sie nimmt ihren Brautkranz ab – und schon wird das Publikum verleitet an der „Bekränzung“ Sachsens durch Eva zu denken. Aber nein. Der Kranz legt sie schlicht und ergreifend auf dem Biertisch hin und zieht mit ihrem Ritter in kühler Miene von dannen. Sachs setzt sich hin mit selbstschockiertem Blick und versucht die Vorgänge zu verinnerlichen. Bewegend und nachdenklich zugleich.

Hannover: Die Meistersinger von Nürnberg

In über 40 Jahren als aktiver Operngänger habe ich gute, schlechte, spannendende, langweilige, anregende Produktionen gesehen, und was Meistersinger angeht auch überaus problematische und dennoch zum Nachdenken geeigneten Regieleistungen erlebt, die zumindest von einer wie auch immer gearteten Auseinandersetzung mit dem Stoff zeugen. Aber eine derartige plakative Verblödung eines Kunstwerkes von Weltrang, wie Oliver Tambosis „Die Meistersinger von Nürnberg“ – die zuerst in Linz gezeigt wurden und nun in Hannover, wo sie eine geplante, doch abgesagte Produktion von Benedikt von Peter ersetzen – bin ich bisher nie begegnet.

Ein Kunstwerk, wie Menschen, besitzt Ecken und Kanten. Es ist ein Kind seines Schöpfers, hat die historische Realität seiner Entstehungszeit wie auch die Geschichte seiner Rezeption. Und es is,t was es  ist. Text und Noten.

Regisseure besitzen ungemein viel Freiheit. Hier braucht man nicht alle Möglichkeiten erwähnen, die das heutige Theater für neue und unkonventionelle Blickpunkte und Interpretationen bietet. Oliver Tambosi hat Probleme mit den Meistersingern – er ist nicht der erste und er wird auch nicht der letzte sein. Auch an dieser Stelle müssen nicht alle Ansatzpunkte aufgezählt werden, mit denen seit dem Zweiten Weltkrieg versucht wurde, sich diesem Werk und seinen Widersprüchen zu nähern. Tambosis Lösungen: Alle Ecken und Kanten auszubügeln. Das Kind seinem Schöpfer zu entführen. Die historische Realität seiner Entstehungszeit zu ignorieren. Alles, was man vor, während und nach dem Nationalsozialismus zu diesem Werk zu sagen hat unter dem Teppich zu kehren. Er erkennt nicht einmal den Text an. Übrig bleibt kaum mehr als eine seichte Dreiecksliebesgeschichte, bunt und fröhlich inszeniert. Wir erleben die Premiere von Richard Wagners einzigem Musical: Kiss Me, Eva.

Die Probleme beginnen mit dem Eingreifen in dem Text. Alles Nationale, alles Deutsche, alles Fränkische, und zuletzt alles Nürnbergische wurde getilgt. Pogner ist nicht mehr in „deutschen Landen viel gereist“, nicht mehr an der Pegnitz heißt Johannes Hans. In diesen Passagen und vor allem in Sachsens Schlussansprache wurde der Originaltext durch banale und plakative Worthülsen ersetzt („Ehrt Eure wahren Meister“).

Das Ganze spielt in einem globalisierten „Neverland“: Alle Figuren, von den Lehrlingen bis zum Goldschmiedemeister Pogner einschließlich dem Haupt der Stadtverwaltung Beckmesser sind gleich angezogen in bunten T-Shirts beschriftet mit internationalen Städtenamen. Die Handlung vollzieht sich vor einer farbenfrohen Graffitiwand auf der „Liebe“ in allen erdenklichen Sprachen schimmert. Es ist ja sehr süß und poppig gemacht, aber jeder Kunststudent im ersten Semester hätte Tambosi sagen können: die Summe aller Farben ist grau.

Derlei Eingriffe werden u.a. mit der Tambosis verkürzter Aussage gerechtfertigt, dass Wagner „am Ende der Oper explizit vor schädlichen fremden Einflüssen“ warnt. Tut er das wirklich? Sachs lehnt nicht per se fremde kulturelle Einflüsse ab. Er wendet sich vielmehr gegen das Aufzwingen dergleichen durch fremde politische Macht, die „Fremdes“ in deutsches Land „pflanzen“, dass die deutsche Kunst überleben würde, wenn auch das Deutsche Reich unterginge und würdigt dabei die Rolle der Meister als wichtige Instanz bei der Pflege des künstlerischen Erbes. Ich bin der Letzte, der Wagner zum „lupenreinen Demokraten“ ausrufen will, und als Amerikaner kann und will ich auch  seine Vorstellung vom Deutschtum nicht verteidigen, aber Tambosi verweigert die kritische Auseinandersetzung mit diesem Text (geschweige denn über ihn nachzudenken) in dem er diesen mit Nichtsagendem überpinselt.

Auch scheint die alte hermeneutische Erkenntnis, dass gelungene Kunstwerke klüger sind als ihre Schöpfer und nicht bloß Bilderbögen zu Lebensläufen dem Herrn Regisseur unbekannt zu sein. Offenbar hat er eigene ideologische Scheuklappen aufgesetzt, die es ihm unmöglich machen, das Kunstwerk „Die Meistersinger von Nürnberg“ in seiner Komplexität zu begegnen. Im Programheftinterview sagt Tambosi: „Wagners Auffassung von Kunst und Gesellschaft versteht sich hier ausschließlich als ‚deutsch‘, grenzt Anderes radikal aus…“. Wenn das so wäre, wieso lässt Wagner seinen Sachs „In Stadt- UND Weltchronik“ ein forschend Blick werfen: Lange vor der 1992er Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung ist Sachs ein Musterbeispiel des Prinzips „global denken, lokal handeln“. Ja, lokal, in diesem Fall Nürnberg, was bekanntlich in Deutschland liegt. In der Tambosi Fassung darf Sachs nicht einmal „mein liebes Nürnberg“ singen. Wieso muss das als Kulturchauvinismus verstanden werden? Sachs sagt damit letztlich nur „meine Heimat“ mit ihren Traditionen und ihrer Sprache. Bei Tambosi scheint Hans Sachs in Esperanto zu dichten. Nürnberg und Deutschland sind „aus diesem Stück entfernt, weil das nur reine Dekoration ist“, sagt der Regisseur an anderer Stelle im Interview. Die Landschaft hinter der Mona Lisa ist auch nur Dekoration. Schnipp, schnipp, Herr Tambosi?? Klar ist Nürnberg bei Wagner ein Idyll, aber hier sind die Figuren, wie die Mona Lisa in ihrer Landschaft, verankert. Bewusst verankert in einer Bürgerstadt, einer der internationalsten Städte im Reich, mit einem (im Stück sogar erwähnten) Albrecht Dürer, der mehrmals nach Venedig reist und italienische Einflüsse – wie Wagner selber – aufnimmt. Keiner verlangt Butzenscheiben, Erdung schon. Und Stichwort Venedig: Weiß übrigens Herr Tambosi, wo Wagner „beschloss die Aufführung der Meistersinger“? In Venedig, bei der Besichtigung von Tizians Gemälde der Himmelfahrt Mariä, die „eine Wirkung von erhabenster Art auf mich ausübte, sodass ich seit dieser Empfängnis in mir meine alte Kraft fast wie urplötzlich wieder belebt fühlte“ (Mein Leben). Wie vieles andere in diesem Werk – wir können sie hier nicht alles aufzählen – passt auch dies ihm nicht in den Kram.

Mit der Schleifmaschine wird alles Filigrane eingeebnet. Die Prügelszene am Ende des 2. Akts verkümmerte sich in eine, wie die Hannoversche Allgemeine sie richtig beschrieb, „Kissenschlacht mit Anfassen“. Ja, süß war es schon gemacht! Aber der Aufbau der Dramaturgie wird damit hinfällig. Denn, was war da noch dran, was Sachs die ganze Nacht wachhielt? Warum schaute er überhaupt in Stadt- und Weltchronik? Was ist es mit dem „Schmerzgekreisch, wenn er sich wühlt ins eig’ne Fleisch…“. Nicht einmal die Aspekte des Werks, die er nicht getilgt hat, schafft Tambosi in irgendeiner Weise überzeugend zu inszenieren. Während dieses Monologs, eines der profundesten in der ganzen Opernliteratur, lässt Tambosi Sachs Herzchen malen. Ach Gott, er ist verliebt, der gute alte Schuster! Unter Herrn Tambosis Händen wird die reiche, vielfältige und subtile Charakterisierung von Sachs in einen Commedia dell’arte-Stereotyp verwandelt. Und eines der bewegendsten Momente des Werks ist degradiert zu einem seichten Pop-Lied.

Als Künstler hat Herr Tambosi das Recht, seine Sicht der Dinge zu „Die Meistersinger“ zu präsentieren (ich denke im Übrigen gern an seinen wunderbaren Falstaff in Hannover vor einigen Jahren zurück, und auch seine Jenufa, die ich in New York sah, bleibt unvergessen). Aber darf er dabei dem Publikum versuchen weißzumachen, dass er „die Substanz des Stücks“ nicht verändert hätte, wie er im hannoverschen Programmheftinterview vorgibt?

 Michael Wolfson

 

Diese Seite drucken