Alexander Bartl:
WALZER IN ZEITEN DER CHOLERA
Eine Seuche verändert die Welt
352 Seiten, Verlag HarperCollins, 2021
Als der Journalist Alexander Bartl seine Recherchen zum Thema Cholera in Wien begann, war von Covid noch nicht die Rede. Im Laufe der Arbeit erwies sich, was niemand je für möglich gehalten hätte, nämlich dass Seuchen kein überwundenes Problem sind.
Dabei zeigten sich auch erstaunliche Parallelen zwischen dem 19. Jahrhundert und heute. Auch damals gab es „Cholera-Leugner“, auch damals wurde versucht, die Informationen über die Ereignisse zu manipulieren, auch damals schon äußerten sich anonyme Leserbriefschreiber in den Zeitungen gehässig in alle Richtungen. Alexander Bartl erklärt das damit, dass sich in hochemotionalen Zeiten der Verstand zurückzieht und Instinkte hervorbrechen…
Nun, die Cholera ist verschwunden, aber sie wütete in Wien, das im Mittelpunkt der Betrachtung steht, zwischen 1831 und zuletzt 1873, wo sie die Wiener Weltausstellung beeinträchtigte. Sie kam in dieser Periode fast jedes Jahrzehnt wieder, aber sie hatte auch positive Folgen – auch wenn man heute weiß, was im 19. Jahrhundert erst Robert Koch herausfand, nämlich dass die Seuche bakteriell übertragen wurde, so litten doch unendlich viele Menschen unter dem schmutzigen Wasser und den mangelnden Hygiene-Bedingungen ihres Alltags.
Und das haben Männer wie der Geologe Eduard Suess und der Wiener Bürgermeister Cajetan Felder, die gewissermaßen die Hauptdarsteller dieses Sachbuchs in Romanform sind, erfolgreich bekämpft, gemeinsam mit Ärzten, die endlich nicht nur an das Heilen, sondern auch an die Prävention dachten. Mit dem Ergebnis all dieser Forschungen und Bemühungen, der Wiener Hochquellenwasserleitung, lebt die Wiener Bevölkerung heute noch glücklich…
Der Autor beginnt mit dem „Ende“, als die Hochquellen-Wasserleitung 24. Oktober 1873 in Wien ankommen sollte, der erste Versuch, den finalen Brunnen am Schwarzenbergplatz zu eröffnen, misslang, der zweite steht dann am Ende des Buches. Dann springen die einzelnen Kapitel zuerst ins Jahr 1830, wo die Donau mit Gewalt aus den Ufern trat und ganze Stadtteile überflutete, geht in Stationen bis 1873, unterbricht das Geschehen aber immer wieder mit Berichten über die Cholera in aller Welt. Kurz, das Thema mäandert sich ein wenig herum, konzentriert sich aber aufs Wiener Geschehen, wo der Autor auch immer wieder zeitgenössische Quellen zitiert. Was ihn, wie erwähnt, nicht hindert, stilistisch doch auch sehr wie ein Romancier vorzugehen.
Die Cholera begann 1818 in Bengalen und betraf damit außer der einheimischen Bevölkerung auch die Briten, die schnell versuchten, dem Phänomen auf den Grund zu kommen. Zwischen 1819 und 1824 zog die Seuche in Asien herum, von Indien nach Persien – und verschwand wieder so rätselhaft, wie sie gekommen war. 1830 bis 1837 setzte das große Sterben ein, als die Cholera von Russland nach Westen kam und vielfach Österreich erreichte, wo man mit der seltsamen Mentalität, die den Wienern eigen ist, 1831 mit dem „Drehtanz“, dem Walzer, der Katastrophe Paroli bieten wollte, in verzweifelter Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen. Wenn wir morgen schon sterben müssen, wollen wir heute noch lustig sein.
Als die Cholera 1854 begann, so sehr im Londoner Stadtteil Soho zu wüten, dass man die Toten gar nicht mehr wegschaffen konnte (was an den Beginn von Covid in Bologna erinnert), hatten manche Regierungen schon ihre ersten Schritte gesetzt. Vor der Pariser Weltausstellung 1867 hatte der Pariser Stadtplaner Georges-Eugène Baron Haussmann schon sauberes Wasser in die Stadt leiten lassen. Und in Wien war man fast ebenfalls so weit – als dort die Weltausstellung 1873 stattfand, überholte die Cholera zwar die Hochquellenwasserleitung, aber wenig später wurde sie doch eröffnet. Die Cholera ist seither nicht wieder gekehrt. Und als Wiener Kuriosum wird erwähnt, dass bei der Eröffnungsfeier der Hochquellenwasserleitung ausgerechnet der „Donauwalzer“ gespielt wurde – wo man sich doch vom verseuchten Flußwasser gerade endgültig verabschiedet hatte…
Die Wiener Hochquellenwasserleitung und ihre Pioniere stehen – neben vielen flankierenden Erzählungen zur Zeit – im Zentrum des Buches. Wie der Geologe Eduard Suess (1831-1914) erkannte, dass der Schmutz, der vom Schutt des Ringstraßenbaus ins Wasser sickerte, die Menschen krank machte, und Wiens Bürgermeister Cajetan Felder (1814 -1894) im Vertrauen auf die Wissenschaft auf der Suche nach reinem, frischen Bergwasser mit ihm ins Semmering-Gebiet zog. Dort hatte schon Maria Theresias Vater, Kaiser Karl VI., beim Jagen die so genannte „Kaiserquelle“ entdeckt – aber das Wasser wurde nur für ihn nach Wien gebracht.
Der Autor zeichnet all die Schwierigkeiten nach, die sich an dieses Projekt knüpften, die Kämpfe im Rathaus, in der Presse, in der Öffentlichkeit. Als es am Ende geschafft war, zog sich Felder zu seiner Schmetterlings-Sammlung zurück und Suess wollte nicht einmal einen Orden.
Vom einstigen Wiener „Brunnen“ am Schwarzenbergplatz gibt es heute nichts mehr zu sehen. Aber das Wasser kommt noch immer nach Wien… und man hat bei der Lektüre des Buches erstaunlich viel gelernt.
Renate Wagner