Alessandra Barabaschi:
STRADIVARI
Die Geschichte einer Legende
306 Seiten, Böhlau Verlag, 2021
Natürlich kann sich jeder Weltklasse-Musiker glücklich schätzen, wenn er eine Amati besitzt. Oder eine Guarneri. Aber in jeder Branche gibt es den Primus – und das ist nun einmal eine „Stradivari“. (Wikipedia leistet da übrigens Bewundernswertes, indem sie alle seine Instrumente, so weit bekannt, auflistet).
Antonio Stradivari, geboren zwischen 1644 und 1648 (genaues Datum unbekannt), gestorben am 18. Dezember 1737 jedenfalls hoch betagt in seiner Heimatstadt Cremona, ist ein ganz großer Name in der Musikgeschichte. Genaues über ihn dürften nur Fachleute gewusst haben. Nun kann man eine Biographie nachlesen, die wirklich in allen denkbaren Archiven und Dokumenten gestöbert hat, um das Leben dieses Mannes plastisch zu machen.
Die Autorin heißt Alessandra Barabaschi, geboren in Parma, gilt als multilingualer Tausendsassa in der Branche, hat schon 2010 ein vierbändiges Werk über Stradivaris Geigen auf Englisch geschrieben und legt diese Biographie auf Deutsch vor. Sie ist bloß in ihrem Stil für ein Sachbuch ein wenig gewöhnungsbedürftig, da sie flott mit dem Leser plaudert (wenn sie das und das wissen wollen, das erzähle ich im nächsten Kapitel und dergleichen), Aber sie hat wirklich viel ausgegraben, und wo es in dem Buch Fehler gibt, möchte man sie eher der Nachlässigkeit des Lektors zuschreiben. Für den Musikfreund erfüllt diese Biographie jedenfalls ihren Zweck: Man erfährt ungemein viel über den Mann und sein Werk.
Die Stadt Cremona, in der Antonio Stradivari sein Leben verbrachte, liegt am Po, ist seit der Antike bedeutend und erlebte zu seiner Zeit politische Turbulenzen sonder Zahl, verschiedene Herrscher, die sich ablösten (die Mailänder, die Spanier, die Habsburger), aber nichts hat die Welt in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts daran gehindert, geradezu musiksüchtig zu sein.
Und Cremona war nun einmal der Olymp des Geigenbaus. Von wohlhabenden Amateuren bis zu Fürstenhöfen und Päpsten reichte der Radius der Kunden. Einmal hat sogar der sächsisch-polnische König August II. seinen Kapellmeister zu Stradivari geschickt, der an Ort und Stelle wartete, bis ein bestelltes Instrument fertig sei, damit er es persönlich sicher nach Dresden bringen konnte…
Bei seinem großen Vorgänger Nicolò Amati hat Antonio vermutlich gelernt, er war damit ein Handwerker. Aber dass er eine seiner Töchter an einen Notar, also in eine höhere gesellschaftliche Klasse, verheiraten konnte, wertet die Autorin als sichtbaren Beweis für seinen Aufstieg. 1667, er war ca. 20 Jahre alt, heiratete Antonio – damals baute er schon seine eigenen Instrumente – die Francesca Ferraboschi, deren interessantes Schicksal die Autorin ausführlich recherchiert hat. Das Ehepaar bekam sechs Kinder, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Ein 1680 erworbenes Haus zeugte von Platz für eine große Familie und eine über beschäftigte Werkstatt. Antonio lebte bis zu seinem Tod hier.
Später sollte Antonio kurz nach dem Ableben der ersten Gattin (1698) trotz seines Alters bald wieder heiraten und mit der zweiten Ehefrau Antonia Maria Zambelli noch einmal fünf Kinder haben, von denen vier das Erwachsenenalter erreichten. Je ein Sohn aus jeder Ehe wurde Priester, die anderen halfen dem Vater in der immer erfolgreicher werdenden Werkstatt, die also ein Familienbetrieb im klassischen Sinn wurde. Als die älteren Konkurrenten wegstarben, blieb Antonio Stradivari der einzige König der Geigenbauerkunst, wobei er sich von den Wünschen vieler großer Musiker inspirieren ließ, seine Instrumente immer zu modifizieren und zu verbessern, um zu seiner unvergleichlichen musikalischen Qualität zu gelangen.
Dabei war Antonio ein gewiefter Geschäftsmann, der seine Produktivität nicht zuletzt dafür einsetzte, seine Kinderschar zu versorgen. Das Buch verwendet viel Platz darauf, die Schicksale von ihnen allen so ausführlich wie möglich zu erzählen. Und natürlich die Geschichte einzelner seiner Instrumente, von denen manches bis heute den Namen eines berühmten Besitzers trägt.
Seinem Rang entsprechend, kaufte Stradivari für sich und seine Familie eine spektakuläre Gruft in der Kirche San Domenico in Cremona. Wer allerdings meint, den großen Mann heute dort aufsuchen zu können, irrt. Nachdem Josef II. die Klöster hatte aufheben lassen, verfiel die Kirche, um die sich niemand mehr kümmerte, bis sie abgerissen wurde. Die Gebeine von Antonio Stradivari und seiner Angehörigen dürften in einem Massengrab gelandet sein. Die Stadt Cremona hat heutzutage für ihren großen Sohn nur einen ziemlich reizlosen Gedenkstein an der Stelle, wo San Domenico einst stand, zu bieten…
Renate Wagner