Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

43 CD-BOX WOLFGANG SAWALLISCH – Philipps & Deutsche Grammophon Aufnahmen; DECCA

Hommage zum 100. Geburtstag und 10. Todestag des Dirigenten

13.05.2024 | Allgemein, cd

43 CD-BOX WOLFGANG SAWALLISCH – Philipps & Deutsche Grammophon Aufnahmen; DECCA

Hommage zum 100. Geburtstag und 10. Todestag des Dirigenten

saw

Die beiden Jubiläen fanden zwar schon im Jahr 2023 (Geburtstag, 26. August resp. Todestag, 22. Februar), die Plattenindustrie reagiert nun leicht verzögert mit hervorragenden, wichtigen und umfassenden Editionen. Als erste hat DECCA eine umfassende 43 CD-Box zu Ehren des Wolfgang Sawallisch herausgebracht, am 7.6.2024 wird Warner mit der 65 CDs umfassenden „The Warner Classics Edition“, Complete Symphonic, Lieder & Choral Recordings nachziehen.

Nach Studien bei Joseph Haas, Hans Rosbaud und Igor Markevitch startete die Karriere von Sawallisch als Korrepetitor und Kapellmeister am Stadttheater Augsburg. Es folgten Stationen in Aachen und Wiesbaden (beides Generalmusikdirektor). Gleichzeitig mit seiner Funktion als Musikdirektor in Köln begann 1960 die 10-jährige Verpflichtung als Chefdirigent der Wiener Symphoniker. Auch später, ab 1980 war er gern gesehener Gastdirigent des Orchesters. Sawallisch war es auch, der in Wien den „Symphoniker-Zyklus“ ins Leben rief.

1961 bis 1973 war Sawallisch Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. In den siebziger Jahren zog es ihn zum Orchestre de la Suisse Romande in Genf. Was die Oper anlangte, war Sawallisch‘ wichtigstes Engagement wohl dasjenige in München von 1971 bis 1992, wo er an der Bayerischen Staatsoper verschiedene Positionen innehatte. Zu erwähnen sind auf jeden Fall noch die Chefposition beim Philadelphia Orchestra (1993 bis 2003), seine Gastdirigententätigkeiten in Japan sowie seine künstlerischen Erfolge als Pianist und Kammermusiker.

Von der Repertoirewahl war Sawallisch auf das klassisch-romantische deutsche Fach und die klassische Moderne konzentriert, wie das auch die Aufnahmen der vorliegenden Box belegen. Nichts ist unsinniger, als Sawallisch ins brave Eck zu stellen. Im Gegenteil: Beliebigkeit oder sentimentales Weichspülerei kannte dieser Musiker nicht. In der Wahl des Outfits war Sawallisch zwar Karl Böhm ähnlich, dessen Erscheinung eher einem ehrwürdigen Sektionschef im Finanzministerium denn einer ausgeflippten Künstlernatur glich, aber Sawallisch hatte wie Böhm ein untrügliches Gespür für Dramatik, theatralische Effekte und herrlichst nuancierte Licht—Schattenbewegungen bspw. in den Orchesterparts von Wagner und R. Strauss. Wenn man so will, war Sawallisch ein spezifisches Gen und ein untrügliches Gespür für die klanglichen Universen der deutschen Romantik eingeimpft.

Natürlich sind die Aufnahmen des Wolfgang Sawallisch keine Musterbeispiele von orchestraler Transparenz, wie sie heute en vogue sind. Dafür halten die bisweilen handfesten, stets äußerst strukturbewussten, von jeglichem Pathos entschlackten Interpretationen, dramaturgisch ausgefeilt, straff musiziert jeglicher zeitgeistigen Probe stand.

Aufpassen, Sawallisch konnte – in dieser Box ist das faszinierend nachzuhören – sehr wohl den „Wilden.“ Natürlich wissen Kenner schon längst, spätestens seitdem sie Richard Wagners Bayreuther „Tristan und Isolde“ Mitschnitte vom August 1958 mit Nilsson, Windgassen & Co gehört haben, wie ekstatisch und verwegen seine Interpretationen klingen konnten. Nehmen Sie einmal die frühen Aufnahmen mit dem Concertgebouworkest 1960 bis 1962 vor (Beethoven „Sechste“ und „Siebte“, vor allem die Fünfte Tchaikovsky), und ich verspreche, die werden Sie aus dem Sessel katapultieren. Vor allem die „Fünfte Tchaikovsky“ stürmt so ungezügelt und ungestüm vorwärts, dass daneben jeglicher Furor von Currentzis (46,80 Minuten mit dem SWR am 7.6.2022) verblasst. Mit nur 43 Minuten Spielzeit habe ich das Hauptthema und das Zuschlagen des „Schicksals“ im ersten Satz noch nie energischer und knallhart-gegerbter gehört als hier. Eine Offenbarung für alle, die Wahrhaftigkeit in der Musik lieben.

Als in der Diskografie besonders wichtig sind die in Anbetracht der späteren Emi-Produktionen vielleicht ins Hintertreffen geratenen Aufnahmen mit den Wiener Symphonikern. Die meisten in dieser Box enthaltenen, auch klangtechnisch vorzüglichen Wiedergaben weisen dieses Orchester als eines der bedeutendsten der damaligen Zeit aus. Da hat sich Sawallisch als begnadeter Orchestererzieher hervorgetan. Gleich, ob alle Brahms-Symphonien, dessen Requiem (Lipp und Crass als Solisten), die ausgewählten Symphonien von Schubert und Mendelssohn-Bartholdy, die Alben mit Musik von Johann Strauss II und erst recht die Einspielungen der Wagner Ouvertüren/Vorspiele inkl. „Siegfried Idyll“, all das sind in ihrer Tonalität musikantische, dramatisch zugespitzte, unwiderstehlich kontrastreiche Spitzeninterpretationen, die es (ausgenommen die Haydn Symphonien, denen eine gewisse spielerische Leichtigkeit und innere Freiheit abgeht) mit den aufregendsten des Kataloges aufnehmen können.

Besonders hervorheben möchte ich die in der Box enthaltenen Chor-Orchesterwerke (Mendelssohn „Lobgesang“ und „Elias“, Schubert-Messen in As-Dur D 678 und in Es-Dur, D 950), wo der Rundfunkchor Leipzig und hervorragende Solisten (u.a. Helen Donath, Waldemar Kmentt, Peter Schreier, Theo Adam, Elly Ameling, Ingeborg Springer! – was für eine atemberaubend edel timbrierte Altistin – für Hörvergnügen sondergleichen sorgen. Sawallisch schuf dabei stets eine ideale Chor- Orchesterbalance, ohne auf Gänsehautmomente dringlicher musikalischer Botschaften verzichten zu müssen. Dass Sawallisch bei den Proben nicht immer der Angenehmste war, steht auf einem anderen Blatt. Bei der Chor-Orchesterprobe zu einer Neunten Beethoven im Wiener Konzerthaus, in der ich als Basschorist mitwirkte, hat er die Altsolistin wegen Intonationsproblemen am Ende des Quartetts (…„Flügel weilt“) die Passage zig Mal wiederholen lassen, obwohl sofort klar war, dass wird nichts mit der exakten Tonhöhe.

A propos Stimmen: Wie bereits erwähnt, trat Sawallisch im Konzertpodium und im Studio nicht nur als Dirigent, sondern auch als Pianist in Erscheinung. Da reichen die Aufnahmen der Box von Brahms „Liebeslieder-Walzern“ und den „Neuen Liebesliedern“ (Mathis, Fassbaender, Schreier, Fischer-Dieskau) über Schuberts „Winterreise“ mit Hermann Prey, Liedern mit Peter Schreier (Prokofiev, R. Schumann, Brahms) bis zu umfangreichen Aufnahmen von Richard Strauss Liedern (Prey und Fischer-Dieskau).

Raritätensammler wird wahrscheinlich eine Silberscheibe (Nr. 27) besonders locken. Als CD-Erstveröffentlichungen werden die Ouverture zu Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ sowie Ausschnitte aus Lortzings „Der Wildschütz“ und Mascagnis „Cavalleria rusticana“ (letztere in deutschen und italienischen Versionen) serviert. Besonders erfreulich ist die (Wieder-)Begegnung mit dem höhensicheren, exquisit schön timbrierten Bariton von Horst Günter, der „Wie freundlich strahlt …Heiterkeit und Fröhlichkeit“ zu einem Highlight der Ausgabe macht.

Sagenhaft gut sind natürlich die beiden bekannten Wagner-Gesamt-Lives aus Bayreuth. „Tannhäuser“ vom August 1962 mit Windgassen, Bumbry, Silja, Greindl, Wächter, Stolze und „Lohengrin“ mit Thomas, Silja, Varnay, Vinay, Crass (ebenso August 1962). Tannhäuser wirkt trotz störender Publikumsgeräusche prächtig und theatralisch äußerst wirksam in Szene gesetzt, „Lohengrin“ in großer Sängerbesetzung (Ramon Vinay fungierte in der Rolle des Telramund nach seinen legendären wie spektakulären Auftritten als Tristan, Tannhäuser, Parsifal und Siegmund in Bayreuth als Heldenbariton) lässt überhaupt keinen Wunsch offen.

Die Oper ist außerdem mit Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg unter Mitwirkung des Bayerischen Staatsorchesters mit Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Varady als ausdrucksstarke Solisten in einer ebenso expressiv-aufrüttelnd dirigierten Lesart vertreten.

Fazit: Eine in jeglicher Hinsicht lohnende Box, als sie mit Vorurteilen aufräumt und mit Katalogjuwelen gleichermaßen strotzt wie einige Raritäten präsentiert. Für Sammler und Einsteiger von Interesse.

Tracklist:

CDs 1–2 BEETHOVEN

Fidelio Ouvertüre, König Stephan Ouvertüre

Symphonien Nos. 6 & 7

CONCERTGEBOUWORKEST

CDs 3–6 BRAHMS

Akademische Fest Ouvertüre

Ein deutsches Requiem WILMA LIPP, FRANZ CRASS, SINGVEREIN DER GESELLSCHAFT DER MUSIKFREUNDE

Alt Rhapsody AAFJE HEYNIS, SINGVEREIN DER GESELLSCHAFT DER MUSIKFREUNDE

Schicksalslied SINGVEREIN DER GESELLSCHAFT DER MUSIKFREUNDE

St. Anthony Variations

Symphonien Nos. 1–4

Tragische Ouvertüre

WIENER SYMPHONIKER

CDs 7–11

HAYDN Symphonien 92, 94, 100, 101

MENDELSSOHN Symphony No.4 “Italian”

SCHUBERT Symphonien 1, 5, 8, 9

WIENER SYMPHONIKER

CDs 12–14 MENDELSSOHN

Ruy Blas Ouvertüre

Symphonien 1–5

NEW PHILHARMONIA ORCHESTRA

CDs 15–16 MENDELSSOHN Elias (Elijah)

THEO ADAM, ELLY AMELING, ANNELIES BURMEISTER, PETER SCHREIER, RUNDFUNKCHOR LEIPZIG

GEWANDHAUSORCHESTER

CDs 17–22 SCHUBERT

Messen Nos. 5 & 6 HELEN DONATH, INGEBORG SPRINGER, PETER SCHREIER, HANS-JOACHIM ROTZSCH, THEO ADAM, RUNDFUNKCHOR LEIPZIG

Symphonien Nos. 1–6, 8, 9

STAATSKAPELLE DRESDEN

CDs 23–24 J. STRAUSS II

“Strauss Concert” · Strauss-Walzer“

“Wolfgang Sawallisch dirigiert Johann Strauss”

WIENER SYMPHONIKER

CD 25 TCHAIKOVSKY Symphony No. 5

CONCERTGEBOUWORKEST

CD 26 BARTÓK Bluebeard’s Castle

JULIA VARADY, DIETRICH FISCHER-DIESKAU

BAYERISCHES STAATSORCHESTER

CD 27

LORTZING Der Wildschütz: Ouvertüre, Arie HORST GÜNTER

MASCAGNI Cavalleria rusticana: Ausschnitte in Italienisch und Deutsch & MARIANNE SCHECH, JAMES PEASE

NICOLAI Die lusgen Weiber von Windsor: Ouvertüre

BAMBERGER SYMPHONIKER

CDs 28–29 WAGNER

Der fliegende Holländer: Ouvertüre

Die Meistersinger von Nürnberg: Vorspiele zu den Akten I & III

Lohengrin: Vorspiele zu den Akten I & III

Parsifal: Vorspiel und Karfreitagszauber

Rienzi: Ouvertüre

Siegfried Idyll

Tannhäuser (Pariser Version): Venusberg

WIENER SYMPHONIKER

CDs 30–37 WAGNER

Der fliegende Holländer JOSEF GREINDL, ANJA SILJA, FRITZ UHL, RES FISCHER, GEORG PASKUDA, FRANZ CRASS

Lohengrin JESS THOMAS, ANJA SILJA, ASTRID VÁRNAY, RAMÓN VINAY, FRANZ CRASS, TOM KRAUSE

Tannhäuser WOLFGANG WINDGASSEN, ANJA SILJA, GRACE BUMBRY, EBERHARD WÄCHTER, JOSEF GRIENDL, GERHARD STOLZE, FRANZ CRASS

CHOR & ORCHESTER DER BAYREUTHER FESTSPIELE

CD 38 BRAHMS

Liebeslieder-Walzer, Neue Liebeslieder, 3 Quartette

EDITH MATHIS, BRIGITTE FASSBAENDER, PETER SCHREIER, DIETRICH FISCHER-DIESKAU

KARL ENGEL, WOLFGANG SAWALLISCH (Klavier)

CD 39 SCHUBERT Winterreise

HERMANN PREY

WOLFGANG SAWALLISCH (Klavier)

CD 40

BRAHMS Volkslieder

PROKOFIEV Children’s Songs

SCHUMANN Dichterliebe, Der Nussbaum

PETER SCHREIER

WOLFGANG SAWALLISCH (Klavier)

CD 41 R. STRAUSS Lieder

HERMANN PREY

WOLFGANG SAWALLISCH (Klavier)

CDs 42–43 R. STRAUSS Lieder

DIETRICH FISCHER-DIESKAU

WOLFGANG SAWALLISCH (Klavier)

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken