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4 CD-Buch GEORGES BIZET – DJAMILEH, VASCO DE GAMA; LE RETOUR DE VIRGINIE, CLOVIS ET CLOTILDE, MUSIQUE CHORALE, MÉLODIES, KLAVIERMUSIK; Palazzetto Bru Zane

12.03.2025 | Allgemein, cd

4 CD-Buch GEORGES BIZET – DJAMILEH, VASCO DE GAMA; LE RETOUR DE VIRGINIE, CLOVIS ET CLOTILDE, MUSIQUE CHORALE, MÉLODIES, KLAVIERMUSIK; Palazzetto Bru Zane

Nr. 6 der Serie „Portraits“

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Man hält es gar nicht für möglich, dass Bizets Kantate „Le Retour de Virginie“ mit dieser Publikation überhaupt zum ersten Mal zu hören ist. Der Schöpfer der „Carmen“ hat ein vielgestaltiges musikalisches Vermächtnis hinterlassen. Zum doppelten Jubiläum der 150. Wiederkehr der Uraufführung eben dieser Carmen und des Todestages des Komponisten will Palazzetto Bru Zane nun vor allem den frühen Bizet und einige besondere Raritäten inkl. Weltpremieren vor den Vorhang bitten.

Eine gute Idee. Abgesehen von der einaktigen Opéra comique „Djamileh“ und der Kantate für drei Stimmen „Clovis et Cloitilde“ (ist mir dank der 1988 aus Anlass des 150. Geburtstages von Bizet entstandenen und bei Erato erschienenen Aufnahme mit dem Orchestre National de Lille unter Jean-Claude Casadesus mit Montserrat Caballé, Gérard Garino und dem fantastischen Bariton Boris Martinovic ein Begriff) hält die Box eine spannende Entdeckungsreise vor allem betr. die Historie des sog. Prix du Rome parat. Dieser Preis der Académie des Beaux-Arts war deswegen so sehr begehrt, weil er den Gewinnern erlaubte, nach Italien zu reisen und in Rom in der berühmten Villa Medicis auf Staatskosten zu logieren. Dabei konnten die Glücklichen in aller Ruhe, kulturell bereichert, dem musikalischen Schaffen nachkommen.

So ist, wie dies Alexandre Dratwicki, die künstlerische Seele von Palazzetto Bru Zane, erläutert, ein Gutteil der auf den 4 CDs enthaltenen Werke mit dem Ziel der Teilnahme am Wettbewerb oder in Rom selbst entstanden. Darunter fallen die bereits erwähnte Übungskantate „Le Retour de Virginie“ (1852) und die 1857 mit dem Preis ausgezeichnete Kantate „Clovis et Clotilde“, die den 19-jährigen Bizet endlich nach Rom brachte. Zu den „Prix de Rome“-Anstrengungen gehören zudem Chöre mit Orchester, darunter der bemerkenswerte Chor mit Solisten „Le Golfe de Baia“, den Bizet später in seine Oper „Ivan IV“ übernehmen wird.

Ganz so gratis und bedingungslos frei war der Aufenthalt in Rom allerdings nicht. Die Tonsetzer mussten professionelle Partituren an die Académie zu deren Beurteilung abliefern. Die Musikwelt verdankt diesem Règlement so Gediegenes wie die Ouvertüre „Rob Roy“ von Berlioz, „La Damoiselle élue“ von Debussy oder „Impressions d’Italie“ von Charpentier.

Einer auf historischen Instrumenten duftig musizierten „Djamileh“ mit Les Siècles und dem Choeur de l’Opéra de Lille unter der detailreich und wundervoll transparent aufgefächerten musikalischen Leitung von François-Xavier Roth mit den Solisten Isabelle Druet (Djamileh), Sahy Ratia (Haroun), Philippe-Nicholas Martin (Splendiano) folgt als vielleicht spannendste Entdeckung die Ode-symphonie “Vasco de Gama“.

Bizet hat die dramatische „Choroper“ 1859 nach von ihm selbst ziemlich umgemodelten Worten des Louis Delâtre ersonnen. Deren Boléro (Léonard) „La marguerite a fermé sa corolle…Ouvre ton coeur“ wurde z.B. von Joan Sutherland gesungen und auf Tonträgern (Romantic French Arias bei DECCA) festgehalten. Als formale Vorbilder dienten dem jungen Bizet Félicien Davids Ode-Symphonie „Le Désert“ für Solisten (Rezitation, Tenor), Männerchor und Orchester aus dem Jahr 1844 sowie vor allem dessen „Christophe Colombe“ (1847).

Bizet mixt in diesem Stück Elemente von Theater, Chorsymphonie und großer Oper. Das zwar Fragment gebliebene, jedoch verschwenderisch konzipierte und instrumentierte Stück, so rudimentär es uns erscheinen mag, gefällt mit seinen harmonischen Exzentrizitäten, damals Grenzüberschreitungen gleich, großen dramatischen Tableaus und seiner großzügigen melodiösen Pracht. Das Libretto und die Handlung rund um die portugiesische Expedition von 1497 mit Vasco da Gama (Kapitän der Flotte), seinem Verbündeten Alvaro, dem jungen Offizier Léonard (Hosenrolle für eine Koloratursopranistin) und dem Riesen Adamastor (gesungen von sechs Bass-Choristen) wirken hölzern und aufgesetzt.

Umso erfreulicher ist die vokale Umsetzung durch die glockenrein zwitschernde Mélissa Petit (Léonrad/La Vigie), den hell-schlanken Haute Contre des Cyrille Dubois (Alvar) und den Bassbariton Thomas Dolié (Titelrolle), begleitet vom Orchestre national de Metz Grand Est, dem Flämischen Radiochor unter der die Üppigkeit und das Pathos der Musik genüsslich auskostenden Leitung von David Reiland.

CD 2 wartet insbesondere noch mit vier Musiken für Chor und Orchester (Le Golfe de Baia, La Chanson du Rouet, Choeur d’étudiants und La Mort s’avance (der auf zwei Études für Klavier von Frédéric Chopin basiert) und einer charmant-originellen vierteiligen Ouvertüre in a-Moll mit denselben Interpreten auf. Letztere zeitlich schwer zuzuordnende Komposition findet sich mit ihrer Vorliebe für Celli (dafür keine Harfe und kein Englischhorn) nach dem Dafürhalten von Dratwicki eher im Fahrwasser von Weber und Mendelssohn als in demjenigen von Berlioz.

Spannend ist natürlich die Begegnung mit der erst am 3. Mai 2024 im Auditorium von Lyon uraufgeführten Kantate „Le Retour de Virginie.“ Das in bekannter Bizet Manier mit umfangreichem Schlagzeug, Englischhorn und geteilten Streichern exotisch orchestrierte Stück besteht aus einer Introduktion, Rezitativen, Arien, einer Stretta, einem Duett, Pauls Gebet, einer effektvollen Gewitternummer und einem kurzen finalen Terzett. Das Libretto von Auguste Rollet macht sich in Grundzügen den Roman „Paul et Virginie“ von Bernardin de Saint-Pierre zu Eigen. Der Ort der Handlung ist die Insel Mauritius. Der Roman handelt von purer Liebe und huldigt dem Gedanken eines verlorenen Paradieses. Die Kantate beschränkt sich auf drei Personen, Paul (poetisch anrührend und höhensicher Cyrille Dubois) seine Mutter Marguerite (vibratosaturiert, in den Höhen schrill die Mezzosopranistin Marie-Andrée Bouchard-Lesieur) und dem Missionaire des Pamplemousses (Patrick Bolleire). Jacques François Fromental Élie Halevy hat das Werk als Zeichen der künstlerischen Reife von Bizet imponiert. Dank Ben Glassberg, der das Orchestre national de Lyon sicher und mit Leidenschaft durch alle seelenschmeichelnden Melodien, Stürme, Tiefen wie Untiefen der Partitur führt, sind auch wir von dieser neuen Bekanntschaft angetan.

Als Kontrast zu so vielen orchestralen Wonnen sind auf CD 3 noch zehn Mélodies zu hören. Adèle Charvet (Mezzo) und Reinoud van Mechelen (Tenor) werden bei diesen Salonpreziosen am Flügel von Florian Caroubi bzw. Anthony Romaniuk begleitet. Der vor allem mit französischen Barockopern international reüssierende Reinoud van Mechelen steuert mit seinem Begleiter auf CD 4 noch die Mélodies „La Rose et l’Abeille“, „Sonnet“, „Ma vie a son secret“, „Le Matin und Voyage“ bei und erweist sich ein weiteres Mal als stilkundiger wie subtil phrasierender Interpret.

Die 1857 uraufgeführte Kantate „Clovis et Clotilde“ ist hier schon alleine wegen des illustren Solistenensembles Karina Gauvin (Clotilde), Julien Dran (Clovis) und vor allem Huw Montague Rendall (Rémy) von gesteigertem Interesse. Ansonsten ist zu dem Werk zu vermelden, dass das Textbuch vom Eisenbahnangestellten Amedée Burion aus dem Norden Frankreichs stammt und wenig spektakulär die Bekehrung und Taufe des Clovis nach der Schlacht von Tolbiac im Zentrum des Geschehens steht. Natürlich geht das nicht ohne dessen Gattin Clotilde und den Erzbischofs Rémy ab. Musikalisch birgt diese „Kantate“ eine Talentprobe vom Feinsten, was in Falle von Bizet heißt, dass wir uns überwiegend auf tolle, alle Sinne umgarnende Musik einstellen dürfen.

Abgerundet wird dieses „Portrait“ mit einigen hörenswerten Werken für Klavier solo. Vor allem die „Variations chromatiques“ (Klavier Célia Oneto Bensaid), eine Nocturne in D-Dur, die „Chasse fantastique“ und „Six Choeurs de Gounod“ arrangiert für Klavier (am Flügel Nathanaël Gouin) zeigen uns eine kaum geläufige und dafür umso lohnendere Seite in Bizets Schaffen.

Das 159 Seiten umfassende Buch der limitierten und nummerierten Edition glänzt – wie bei Palazzetto Bru Zane üblich – mit detaillierten und auf neuesten Forschungsergebnissen basierenden Informationen (Alexandre Dratwicki, Hector Cornilleau, Étienne Jardin) zu den einzelnen Werken. Die Libretti und Liedtexte werden, wie üblich, in französischer und englischer Sprache angeboten.

Die Edition bereichert umfänglich das Verständnis und die Kenntnisse über die Bandbreite des musikalischen Schaffens von George Bizet, insbesondere über seine Anfänge. Die künstlerische Qualität der sorgfältig besetzten Einspielungen ist über jeden Zweifel erhaben. Die Sterneköche von Bru Zane garantieren wieder einmal einen Genuss hors pair. Es ist angerichtet. Wohl bekomms!

Dr. Ingobert Waltenberger  

 

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