Besuch beim „fleißigsten Orchester der Welt“
Die Nordwestdeutsche Philharmonie ist gut für die Region und bemüht sich in konzertloser Zeit um Sichtbarkeit
Die NWD Philharmonie mit ihrem Hauptsitz in der ostwestfälischen Stadt Herford breitet ihren Konzertbetrieb über eine ganze Region in mittlerweile 18 Städten in der Region aus. Dieser besondere Standortfaktor ist Kapital des Orchesters und garantiert eine kulturelle Versorgung auf höchstem Niveau. Die Konzerte zu Weihnachten und zum Jahreswechsel mussten nicht ausfallen, denn sie wurden gefilmt und sind jetzt online zu erleben. Viele CD-Produktionen im zurück liegenden Jahr zeugen von einer hohen Produktivität in Zeiten geschlossener Konzertsäle. Stefan Pieper führte ein Gespräch mit dem Intendanten Andreas Kuntze.
Andreas Kuntze.
Die NWD Philharmonie gilt als eines der fleißigsten Orchester der Welt charakterisiert. Drückt sich dies auch in Zahlen aus?
Wir spielen durchschnittlich 20 Aufführungen im Monat, also bis zu 130 Konzerte im Jahr. Übers Jahr kommen etwa 50 bis 60 Produktionen zusammen. Hinzu kommen zahlreiche Schulkonzerte.
Die NWD-Philharmonie zeichnet sich durch Überregionalität aus und ist daher ein Imagefaktor für die Region. Wie hat sich dies entwickelt?
Ich bin seit 20 Jahren Intendant des Orchesters und wir haben viel am Image für die Region gearbeitet. Vor zehn Jahren hatten wir ernste Finanzdebatten, die sogar zu Existenzdebatten wurden. Aber wir haben seitdem noch intensiver versucht, die Region zu durchdringen und uns noch mehr Städte erschlossen, in denen wir spielen. Wir haben zum einen die „Big Five“, also Herford, Minden, Bad Salzuflen, Detmold, Paderborn – aber auch mittlere Städte wie Gütersloh, Bünde, Bad Oeynhausen. Hinzu gekommen sind viele kleinere Gemeinden. Mittlerweile sind es 18 Städte. Immer mehr Kommunen sind in den Trägerverein eingetreten. Eine so breite Aufstellung ist finanziell für uns gut und für die Anmutung des Orchesters hilfreich. Im Jahr 2012 wurde ein weiterer Förderverein gegründet, der hat für mehr Unterstützung durch die heimische Wirtschaft gesorgt. Es gibt wohl kaum ein Orchester, dessen finanzielle Lasten auf so vielen Schultern ruhen. Und da das Orchester viel im Ausland und auch in Amerika tourt, sind wir ein internationales Aushängeschild für unsere Region.
Welche Voraussetzungen erfüllt das Orchester dafür?
Die Arbeitsweise des Orchesters ist sehr schnell geworden mit den Jahren. Wir kommen mit weniger Proben als früher aus. Was früher fünf Proben brauchte, geht heute in drei bis maximal vier Terminen. Eine gute Schule waren die WDR-Produktionen, die wir jahrzehntelang hatten. Da musste man in einer Woche 80 Minuten aufnehmen. Auch unbekannte Werke, was ein immenses Pensum ist! Gerade hier hat sich das Orchester in der Tugend geübt, zügig zu liefern.
Die Professionalität unserer Musikerinnen und Musiker ist ein verlässlicher Qualitätsstandard. Egal, welche Stimmung und Tagesform gerade herrscht, es wird immer gleich gut. Selbst wenn viele mal keine Lust haben sollten, kommt schließlich etwas gutes raus. Wenn alle viel Lust haben, wird es natürlich noch viel besser. Dann entstehen großartige Momente.
Auf einer ihrer neuesten CD-Produktionen haben Sie Werke von César Franck und Richard Strauss miteinander kombiniert. Wie kam diese Auswahl zustande?
Die Entscheidung dafür fiel zusammen mit dem Label und der Pianistin Ekaterina Litvintseva. Sie war auf uns zugekommen und hat gefragt, ob wir César Francks „Variations symphoniques pour piano et orchestre“ und die Burleske von Richard Strauss mit ihr aufnehmen können. Dann kam die Überlegung, was im Konzert und auf der CD gut dazu passen würde. Also wurden César Francks „Le Chasseur maudit“ und Richard Strauss „Tod und Verklärung“ ausgewählt.
Wie lief die Erarbeitung?
Es war eine überraschungsvolle und gute Konstellation. Dieses Programm ist ja für sich schon etwas atypisch. Wir hatten bereits einen passenden Dirigenten gefunden, nämlich Christoph Prick – der ist gerade für Richard Strauss prädestiniert und überhaupt im deutschen Repertoire sehr gut zuhause. Dann wurde er leider krank. Bei der Suche nach einem Ersatz zeigten sich die „Nachteile“ des Programms. Die beiden Stücke von César Franck waren erst mal niemandem bekannt. Ich kam dann mit ein paar Dirigenten ins Gespräch. Sie fanden dieses Programm zwar interessant, aber auch sie kannten diese Stücke nicht. Hier kam unser künftiger Chefdirigent Jonathon Heyward ins Spiel, der uns seinerseits den jungen Dirigenten Jonathan Bloxham empfahl. Bemerkenswert: Der hat gerade erst seine Karriere angefangen, aber schon alle diese Stücke dirigiert. Wir alle waren sehr gespannt – und dann lief es total gut. Wir haben das Programm circa fünf bis sechs Mal gespielt und waren also für die Studioaufnahme bestens vorbereitet.
Was zeichnete die Zusammenarbeit mit Jonathan Bloxham sonst noch aus?
Er hat alles jeden Abend immer etwas anders gemacht. Das beugt dem Effekt vor, in ein zu starres Muster zu kommen. Die Studioaufnahme, die sich an die Konzerte anschloss, lief dann wie Butter. Das alles im Studio zu produzieren, war keine große Sache mehr. Die Gesamtstimmung war gut. Die Leute fanden die Stücke gut – ich finde, das Ergebnis ist wirklich vorzeigbar.
Ziehen Sie in einem solchen Programm eine bewusste Verbindungslinie zwischen bekannterem Repertoire und Stücken mit „Entdeckungsfaktor“?
Ganz genau. „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss ist ja recht gängig. Die beiden Werke von César Franck kennt hingegen kaum jemand. Ich habe herausgefunden, dass die Burleske fast 20 Jahre lang nicht gespielt worden ist. Diese Produktion sticht schon heraus. Man versucht ja immer, neue Wege zu gehen. Bei der nächsten und übernächsten CD stand wieder gängigeres Repertoire auf dem Programm.
Höre ich recht, dass Sie seit dieser Veröffentlichung schon wieder drei weitere neue CDs produziert haben?
Wir haben in diesem Jahr vier CD-Produktionen gemacht. Drei davon waren schon vor Corona geplant. Die vierte ist jetzt dazu gekommen, um die Zeit zu füllen – auch als Geschenk an unseren scheidenden Chefdirigenten, der ja durch den Lockdown um seine Abschieds-Konzertserie betrogen wurde. Ein Programm mit Bizets Erster Sinfonie war unsere vierte Produktion in diesem Jahr.
Welchen Stellenwert hat eine gute CD-Produktion für Sie?
In Zeiten von Streaming gibt es immer wieder Leute, die CD-Produktionen in Frage stellen. Die CD ist aber wichtig, weil viele Menschen nach wie vor über hochwertige Anlagen mit CD-Player und eben nicht nur über Smartphone und Computer Musik genießen. Darüber hinaus ist eine CD für uns als Orchester die beste klingende Visitenkarte. Es macht sich immer gut, in Gesprächen mit Agenturen, Förderern und Geldgebern eine CD zu überreichen. Ich sehe das als klassisches Understatement. Da wird sofort greifbar: So klingt es, wenn wir spielen.
Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr mussten viele Konzerte abgesagt werden. Wie halten Sie den Kontakt mit Ihrem Publikum aufrecht?
Wir machen vieles im Hinblick auf unsere Zielgruppen in der Region. Die ständige Kontaktpflege mit unseren Abonnenten ist unser Ziel. Der Förderverein hat unterdessen einen Spendenaufruf gestartet – fast alle haben das bereits bezahlte Geld erhalten. Mittlerweile ist leider schon wieder fast alles, wofür die Abonnenten in der aktuellen Saison bezahlt haben, ausgefallen. Es hat zum Beispiel noch eine fünfte CD gegeben: Ein Konzert mit unserem künftigen Chefdirigenten Jonathon Heyward wurde in Amsterdam und Antwerpen aufgenommen und im Eigenverlag heraus gebracht. Als der zweite Lockdown kam, haben wir die Aufnahme sofort als Geste an unsere Abonnenten geschickt.
Wie hat „Corona“ die Arbeit hinter den Kulissen beinflusst?
Trotz Konzertabsagen war das Frühjahr eine sehr arbeitsintensive Zeit für die Orchesterverwaltung. Da wurden die ganzen Hygienekonzepte ausgearbeitet. Lohn der Mühe war, dass wir nach der ersten Phase des Lockdowns wieder Sommerkonzerte mit Abstand und in kleinen Besetzungen spielen können.
Soeben haben Sie den Konzertsaal in Bad Salzuflen bespielt und zwei Konzerte aufgezeichnet. Sehen Sie eine Zukunft in solchen digitalen Formaten?
Wir haben uns dazu entschieden, auch auf den Streaming-Markt zu gehen. Gerade wurde ein kleineres Programm aus den beiden geplanten Weihnachts- und Neujahrs-Konzerten aufgenommen und ist jetzt auch schon online abrufbar. Das ist zumindest ein Hauch von Ersatz für die entgangenen Livekonzerte. Auf der Bühne sind sämtliche Protagonisten der „echten“ Konzerte versammelt, aber mit Markus Huber steht ein anderer Dirigent am Pult. Wir wollen auch unter solchen Bedingungen höchste Qualität liefern. Ebenso möchten wir dieses Format nicht inflationär werden lassen, etwa durch zu viele Streaming-Produktionen.
Die NWD Philharmonie macht sich pädagogisch für das junge Konzertpublikum von morgen stark. Welche Chance bieten hier die digitalen Möglichkeiten?
Normalerweise hätten wir in der ersten Hälfte des Jahres 2020 viele Schulkonzerte, die wir jetzt natürlich nicht spielen können. Wir werden aber etwas produzieren, das wir Schulen zur Verfügung stellen. Ich denke, dass die politischen Kräfte so etwas erwarten, da wir ja weiterhin öffentliches Geld bekommen. Wir kommen dadurch bislang recht gut durch die Krise – und möchten natürlich während dieser Zeit unser bestes geben und viel liefern.
Wie geht es im nächsten Jahr weiter?
Wir müssen jetzt gucken, was uns das nächste Jahr so bringt. Gerade wurden die Zuschüsse fürs Orchester erhöht, also ist mehr Geld im Topf. Natürlich sind längst die Konzerte für die Saison 2021 und 2022 geplant, ebenso Auslandstourneen und dann kommt ja auch der Chefdirigentenwechsel. Realistisch betrachtet ist aber bis zum Sommer erst mal alles in Frage gestellt.
Videolinks:
Weihnachtskonzert:
CD-Produktion mit Jonathon Bloxham und Ekaterina Litvintseva: https://www.youtube.com/watch?v=_i_NodD0Bqk
Das Interview führte Stefan Pieper
Sophie-Magdalena Reuter, Sopran, Markus Huber, Leitung. Foto: Stefan Pieper
Miljenko Turk, Bariton, Sophie-Magdalena Reuter, Sopran. Foto: Stefan Pieper
Sophie-Magdalena Reuter, Sopran. Foto: Stefan Pieper