Malte Hemmerich:
100 JAHRE SALZBURGER FESTSPIELE
Eine unglaubliche Geschichte in fünf Akten
142 Seiten, Ecowin Verlag, 2019
Nicht jede Institution, die auf ihren „Hunderter“ zurück blickt, kann sich dermaßen über ein „Blühen und Gedeihen“ freuen wie die Salzburger Festspiele – zumindest auf finanziellem Sektor, und bedeutet der heutzutage nicht am meisten? Schon während des Ersten Weltkriegs träumten Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal von einem „Friedens-Festival“, 1920 konnten sie endlich beginnen, und was daraus geworden ist… das wird sicher wieder in vielen dickleibigen Wälzern beschworen.
Malte Hemmerich, ein junger deutscher Journalist, legt seinen kurz gefassten Rückblick feuilletonistisch und auch pointiert an, aber weil es ihm gelungen ist, die Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler quasi als Vorwort-schreibende Schutzherrin zu gewinnen, muss auch in der Gegenwart alles perfekt sein. Da kann er sich höchstens auf ein paar Umwegen Bemerkungen leisten, die der wissende Leser dann für sich interpretiert. Wenn es etwa heißt, unter Karajan sei für Salzburg gerade „das Beste gut genug“ gewesen und noch bei Pereira sei „die Dichte der Stars“ hoch gewesen, dann ergänzt der grantige Salzburg-Beobachter, dass man seit der Ära Hinterhäuser mit den Besetzungen wirklich keinen Staat machen kann. Aber das darf auch ein fröhlicher Jung-Journalist nicht schreiben, wenn er in Abhängigkeiten steckt.
Das Vorwort der Präsidentin ist akkurat das, was man vom Vorwort einer Präsidentin erwarten kann, dann geht der Text in fünf Kapiteln eher chronologisch vor, wobei der jeweils hoch feuilletonistische Einstieg von der Gegenwart her eher gezwungen wirkt (wen interessiert in diesem Zusammenhang Manuel aus dem Burger-Laden?), so wird dann durch die Geschichte gebraust.
Vom ersten „Jedermann“ am Domplatz, kein Licht, keine Mikrophone, die Zuschauer auf einer Ebene am Domplatz sitzend. (Und nebenbei bemerkt: Das Stück war eine Verlegenheitslösung, weil Hofmannsthal mit dem ursprünglich für das Ereignis geplanten „Salzburger großen Welttheater“ nicht fertig geworden war – und heute ist Salzburg ohne „Jedermann“, dieser immer ausverkauften CashCow der Festspiele, nicht denkbar.)
Ehrlich – wer hätte sich damals vorgestellt, dass ein Luxusfestival daraus erwachsen würde? Frühere Versuche nämlich, den (per Fußtritt hinaus geworfenen) „Sohn der Stadt“, den unvergleichlichen Mozart, medial zu vermarkten, hatten nie recht geklappt…
Der Autor hat sich gut in alte Dokumente eingelesen und zitiert geschickt, so dass klar wird, wie viel (verbales und sonstiges) Pathos einst auf dieses Projekt „Salzburger Festspiele“ aufgewendet wurde, wie polyglott man dachte (vermutlich auch in Hinblick auf die Gäste), wenn die Hoffnung auf das „farbenreiche Nebeneinander der Völker und Kulturen“ angesprochen wurde, wenngleich Tourismus und dann noch nicht so benannt „Event“ durchaus bedacht wurden. Damals war Salzburg eine Kleinstadt von 40.000 Einwohner, heute sind es rund 150.000. Übrigens – zu Beginn waren nicht alle Salzburger Bürger glücklich, als Festspielstadt überrannt zu werden. So weit man weiß, gibt es das Phänomen heute noch.
Im Lauf der Jahre ist auch Salzburg nicht um die Tatsache herum gekommen, dass Österreich von 1938 bis 1945 Teil des Deutschen Reichs war und die Politik bestimmte, was zu geschehen hatte, egal, was der Einzelne dachte und wünschte. Nicht jeder konnte es sich leisten, wie Arturo Toscanini den Festspielen einfach den Rücken zu drehen. Dafür waren nach dem Krieg, im neuen Österreich, ein paar „Fortschrittler“ am Ruder: Gottfried von Einem, Oscar Fritz Schuh, aber nach und nach pendelte man sich vom „Wozzeck“ wieder auf den Glanz ein. Herbert von Karajan, ein übergroßes neues Festspielhaus. Joachim Kaiser fand zu der skurrilen Formulierung, Salzburg sei „geheimes und gleichzeitig unübersehbares Zentrum von Karajans irdischer Existenz“ (also was? Geheim oder unübersehbar?), das Weltklasse-Niveau wurde postuliert und meist durchgesetzt, die Eleganz explodierte. 1967 gründete der Maestro die Osterfestspiele, weil aus dem Phänomen Salzburg und Festspiele noch viel mehr herauszuholen war. (Bis heute übrigens, sonst herrschte nicht dieses Gerangel…)
Aber niemand bleibt unangefochten: Als Harnoncourt auftauchte, war Karajan nicht amused und sprach von „Prestigeverlust“. Tatsache ist, dass mit Karajans Tod 1989 ein neues Salzburg-Zeitalter anbrach, und dass von da an nie mehr die unter seiner Ära gezeigte Kontinuität aufrecht erhalten werden konnte.
Von da an galoppiert das Büchlein durch Namen, fällt Urteile, die nicht jeder Leser und Kenner der Materie teilen wird (wem sollte Gerard Mortier ernsthaft als „Heilsbringer“ gegolten haben???), aber da taucht 1995 auch schon Helga Rabl-Stadler auf, die einzige Figur, die im Wirbel der jeweiligen Kurzzeit-Intendanten etwas wie Ruhe in die Besetzungs-Wirbel hereinbrachte. Sie überlebte alle, Stein, Flimm, Bechtolf, Ruzicka, Pereira, nur Hinterhäuser wird länger da sein als sie, wenn sie das Jubiläumsjahr zum Anlaß ihres Rücktritts nach einem Vierteljahrhundert nimmt. Oder – wer weiß?
Eines macht das Büchlein jedenfalls klar: In einem unübersehbaren Wirbel von Persönlichkeiten, die sich da als Gestalter und Leiter versuchten, haben die Salzburger Festspiele immer, geradezu rätselhaft, überlebt.
Renate Wagner