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Zwei empfehlenswerte Boxen – Brilliant Classics

05.10.2018 | cd

Zwei empfehlenswerte Boxen – Brilliant Classics

 

Johann Nepomuk Hummel-Edition 20 CD – inkl. die Oper „ Mathilde von Guise“ und das Oratorium „Der Durchzug durchs Rote Meer“ – Brilliant Classics

 

Je öfter ich die Musik dieses viel zu wenig bekannten letzten Vertreters der Wiener Klassik höre, desto mehr begeistern mich sein unendlicher Einfallsreichtum, die dramatische Urkraft, spannungsgeladene Finesse und die vollendeten Proportionen seines vielfältigen Oeuvres. Wer ist Hummel, werden sich viele Musikfreunde trotz der recht üppigen Diskographie fragen? In Konzertsälen geschweige denn Opernhäusern steht er selten bis gar nicht auf den Spielplänen. 

 

Der in Pressburg geborene Komponist war als Siebenjähriger Schüler Mozarts – er soll sogar zwei Jahre lang im Hause Mozart gewohnt haben – trat 1803 die Nachfolge Joseph Haydns (den er in Briefen als „über alles verehrter Papa“ bezeichnete) als Konzertmeister am Hofe des Prinzen Esterhazy an und biss sich, wie andere auch, am übermächtigen Vorbild Beethoven seine Zähne aus. Daher gibt es in Hummels umfangreichem, über 300 Titel messendem Werkverzeichnis keine einzige Symphonie. Als kleine Rache soll er Beethoven die Sängerin Elizabeth Röckel, seine spätere Frau, ausgespannt haben.

 

Der Tausendsassa Hummel, den es anhand der umfangreichen Brilliant Classics Box wieder zu entdecken bzw. neu zu bewerten gilt, war einer der größten Pianisten seiner Zeit, ein gefragter Lehrer (Hummel gab schon als Elfjähriger in Edinburgh Klavierunterricht!) und Autor eines 500 Seiten dicken Kompendiums der Klaviermusik. Kontrapunkt hat er wie Beethoven bei Albrechtsberger studiert, die Grundlagen an Vokalkomposition hat ihm Antonio Salieri beigebracht. Das Rätsel, warum dieser geniale Komponist so lange vergessen war, wird wohl eines der Geheimnisse der Musikgeschichte bleiben. Diejenigen, die behaupten, er sei zwischen den Stühlen der Klassik und Romantik gesessen, haben kein gutes Argument, weil Hummel als Typus und vom Stil her überwiegend im sonnigen Abendlicht der Wiener Klassik stand, wenngleich etwa in seinen Klavierkonzerten sich bereits die Frühromantik mit vollen Segeln Fahrt aufnimmt.  

 

Wie gut Hummel als Pianist gewesen sein muss, beweisen nicht nur seine herausragenden Klaviersonaten, sondern auch die verblüffende Tatsache, dass Mozart ihm im Alter von neun Jahren die „Konzertreife“ zusprach. Nach einer Aufführung in Dresden, wo Hummel ein Klavierkonzert und die Variationen KV 264 spielte, soll Mozart geäußert haben, der (kleine) Hummel sei ihm an Anschlagstechnik überlegen. Goethe soll in Weimar für die Behandlung des Klaviers durch Hummel einen Vergleich mit Napoleons Politik bemüht haben.

 

Geschäftstüchtig war Hummel ebenfalls. Für seine gar von Schumann und Mendelssohn begehrten Unterrichtsstunden soll er europäische Höchstpreise verlangt haben. Auch pflegte Hummel im Gegensatz zu Beethoven ein gutes Einvernehmen  mit seinen Verlegern und war einer der ersten kreativen Künstler, der sich für einen universellen Urheberschutz einsetzen.

 

Bei den Esterhazys durchlebte Hummel eine zwar weniger triumphale Zeit, das Engagement endete 1811 mit einem veritablen Rausschmiss (wo der gelangweilte Maestro knapp einer Anklage wegen Entwendung von Haydn-Manuskripten entkam). Er konnte  während dieser Zeit jedoch gehörig Kompositionserfahrung vor allem in Bezug auf sakrale Musik sammeln und zudem Opern, wie etwa die in der Box enthaltene „Mathilde von Guise“ (trotz deutschem Titel in italienischer Sprache ohne Rezitative gesungen) schreiben. Dieses vorzügliche Bühnenwerk in opéra comique Manier hat Hummel später in seiner Weimarer Zeit überarbeitet. Es dreht sich um eine Dreiecks-Liebesgeschichte: Mathilde soll nach dem Willen der herzoglichen Familie den König von Polen heiraten. Verliebt ist sie aber in den schönen Sekretär des Bruders, den Grafen Beaufort, den sie aus Standesgründen nicht ehelichen darf. Aber auch eine Baronin hat mit Billigung des Herzogs ein Auge auf Beaufort geworfen. Schließlich erhebt der französische König den Grafen Beaufort wegen tapferer Lebensrettung in den Herzogstand, die Hochzeit kann stattfinden. Das seconda Liebespaar, Claudina, Tochter des alten Gärtners Nicolo, und Valentino, Kammerdiener des Grafen von Beaufort ist am Schluss (wie in Mozarts Figaro) auch im Glück vereint. Gesungen wird anständig bis prächtig: Kristine Gailite in der Titelpartie, der treffsichere samten timbrierte Tenor Philippe Do, als Baronin versucht Hjördis Thébault den Grafen mit ihrem fleischigen Mezzo zu verführen, Pierre-Yves Pruvot verteidigt mit schwarzem Bariton die aristokratische Ehre. Der slowakische Kammerchor „Alea“ sowie die Formation „Solamente Naturali“ auf zeitgenössischen Instrumenten werden von Didier Talpain sicher durch alle Tiefen und Untiefen der Partitur gelotst.

 

Die von Brilliant Classics vorgelegte Edition enthält Eigenproduktionen und lizensierte Aufnahmen der Labels Naxos, cpo, Vox oder Edel: Zu nennen sind alle sechs Klaviersonaten (mit Costatino Mastroprimiano; vgl. meine Besprechung der gesonderten Publikation im Online Merker vom 19.8.2018), zusätzliche Werke für Soloklavier wie Fantasien und Rondo, Kammermusik (Violasonaten, Flötentrio, Klaviertrios, Klavierquintette, Septette), Klavierkonzerte sowie jeweils ein Violin-, Fagott-, Trompeten- und Mandolinenkonzert und ein Konzert für Violine und Klavier.

 

Besonders anregend finde ich auch Hummels Sakralmusik. Die „Missa Solemnis“ in C, das „Te Deum“ in D oder das Offertorium „Alma Virgo“ sind schöne Beispiele der weitergeführten Wiener Kirchenmusiktradition. Hören Sie das jubelnde „Te Deum“, die Messen und das  überaus prächtige Oratorium „Der Durchzug durchs rote Meer“. Besonders beeindruckt in dem großartigen  Live-Mitschnitt vom 22.9.2004 etwa Simone Kermes auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten mit der Arie „Und Moses streckte aus die Hand“. Aber auch die Kammermusikaufnahmen, etwa die Sextette für Klavier, Flöte, Oboe, Horn, Viola, Cello und Kontrabass quellen über vor melodiöser Eingebung, Tempo und Temperament. 

 

Die Aufnahmen sind großteils in der Slowakei, in Italien, Deutschland, den Niederlanden und Ungarn entstanden. Die Klavier-CD mit Madoka Inui  (Fantasien, Rondo, Bagatellen) wurde 2005 ursprünglich für Naxos im ORF Funkhaus Wien aufgenommen.

 

Der Vorteil der Box liegt neben der überwiegend guten Qualität der Aufnahmen ganz eindeutig im Preis und der umfassenden Werkschau. An der Edition zu bemängeln ist, dass es weder ausführliche Informationen zu den Aufnahmen – lediglich einen kurzen englischsprachigen Aufsatz – noch das Libretto der Oper für den Interessierten bereit hält.

 

Inhalt der Box

CDs 1-3: Klaviersonaten Nr. 1-6 (op. 2 Nr. 3; op. 13; op. 20; op. 38; op. 81; op. 106); Fantasie C-Dur op. 124
+CD 4: Fantasien opp. 18 & 123; Fantasie „Recollections of Paganini“; Fantasina op. 124; Rondo quasi una fantasia op. 19; La contemplazione aus „Six Bagatelles“ op. 107
+CD 5: Sonate für Viola & Klavier op. 5, 3; Amusement op. 108 für Violine & Klavier; Grand Rondeau brillant op. 126 für Violine & Klavier; Introduction & Variationen für Violine & Klavier
+CD 6: Grand Potpourri National; Potpourri op. 53
+CD 7: Flötentrio op. 78; Flötensonaten op. 2, 2; op. 50; op. 64; Grand Rondeau Brillant op. 126 f. Flöte & Klavier
+CDs 8 & 9: Klaviertrios opp. 12, 22, 35, 65, 83, 93, 96
+CD 10: Klavierquintette opp. 74 & 87
+CD 11: Septette opp. 74 & 114
+CD 12: Klavierkonzert Nr. 2; Concertino für Klavier & Orchester op. 73; Introduction & Rondo brillant F-Dur „Le Retour a Londres“ op. 127
+CD 13: Klavierkonzert Nr. 3; Konzert für Klavier, Violine & Orchester op. 17
+CD 14: Klavierkonzert Nr. 4; Etüden für Klavier op. 125 Nr. 1-27
+CD 15: Fagottkonzert F-Dur WoO 23; Introduktion, Thema & Variationen F-Dur op. 102; Klarinettenquartett Es-Dur WoO 5
+CD 16: Trompetenkonzert E-Dur WoO 1; Mandolinenkonzert G-Dur; Rondo für Klavier „La galante“ op. 120; Violinkonzert G-Dur
+CD 17: Te Deum für Chor & Orchester WoO 16; Alma Virgo op. 89a
+CD 18: Oratorium „Der Durchzug durchs rote Meer“ 
+CDs 19 & 20: Mathilde von Guise op. 100

Weitere CD-Tipps Hummel: Die Messaufnahmen (Nr. 1-3 und eine Messe in d-Moll der Serie Chaconne beim Label Chandos unter dem Dirigenten Richard Hickox.

 

Wilhelm Friedmann Bach Edition 14 CD – Brilliant Classics

 

Strenger Kontrapunkt und galante Empfindsamkeit

 

Obwohl Wilhelm Friedemann Bach lange im Schatten seiner Brüder Carl Philipp Emanuel (der „Berliner“ Bach) und Johann Christian (der „Londoner“ Bach) stand, kommt dieser in Weimar geborene älteste Sohn doch dem genialen Vater in der Originalität des Schaffens als nächstes, behauptet zumindest der Rezensent und ein Teil der Musikwissenschaft. Ob er ein streitsamer, stolzer und sturer Mann, vielleicht dazu noch ein unsteter Quartalssäufer war, darüber sollen sich Biographen streiten. Gesichert ist eine vielschichtige musikalische Karriere nicht ohne Brüche und Misserfolge. Was wichtig ist, Wilhelm Friedemann hatte als einziger der Bachsöhne eine profunde Ausbildung im Violinspiel (bei J. G. Graun) und er muss ein großartiger Organist gewesen sein. Wilhelm Friedemann konnte dies in Posten an der Sophienkirche in Dresden, später als Musikdirektor an der Liebfrauenkirche in Halle unter Beweis stellen.

 

In seinem Werk vollzieht sich der Übergang vom Barock zum Sturm und Drang. Wilhelm Friedemann Bachs Musik weist darüber hinaus u.a. im Kern mancher Arie in den Kantaten schon auf die Klassik und sogar Romantik voraus. Typisch für W.F. Bachs Musik sind unvermutet auflodernde emotionale Zellen bzw. expressive Einsprengsel inmitten etwa seiner späten Fantasien. 

 

Die „Wilhelm Friedemann Bach Edition“ ist die bisher umfangreichste Zusammenstellung seiner Werke und deckt alle Gattungen seines Schaffens ab. Sie enthält das vollständige Cembalo- und Orgelwerk, sämtliche Cembalokonzerte sowie Orchesterstücke, Kammermusik und eine Auswahl an Kantaten. Das Kammerorchester C. P. E. Bach unter der Leitung von Hartmut Haenchen, die Rheinische Kantorei und Das Kleine Konzert unter Hermann Max, die Harmonices Mundi, der wunderbare Cembalist Claudio Astronio und Filippo Turri auf der Orgel sind einige der Interpreten, die in Aufnahmen von 1991-2017 das Genie des schwierigen Wilhelm Friedmann in ein helles Licht tauchen. Die sängerische Seite ist mit Barbara Schlick, Claudia Schubert, Wilfried Jochens und Stephan Schreckenberger ebenfalls gut bedient. 

 

Bedauerlicherweise ist ein beträchtlicher Teil seiner Werke sind verloren gegangen. Genießen wir daher die Musik dieses Lieblingssohns des großen Johann Sebastian Bach, die in der vorliegenden Box zu einem guten Teil in referentiellen Aufnahmen.

 

Inhalt der Box

Orchesterwerke: Symphonien F-Dur F. 67 & d-moll F. 65; Sinfonia aus der Kantate „Ertönt, ihr seligen Völker“; Sinfonia aus der Kantate „Dies ist der Tag“; Sinfonia aus der Kantate „Wo geht die Lebensreise hin?“; Sinfonia aus der Weihnachtskantate „O Wunder, wer kann dieses fassen?“; Cembalokonzerte D-Dur F-41, e-moll F. 43, F-Dur F. 44, f-moll, a-moll F. 45; Konzerte für 2 Cembali Es-Dur F. 46 & F. Dur F. 10
+Kammermusik: Sonate e-moll für Flöte, Cembalo & Cello F. 52; Trio a-moll für 2 Flöten & Klavier F. 49; 2 Sonaten F-Dur für Flöte & Klavier; 2 Trios D-Dur für 2 Flöten, Cembalo & Cello
+Cembalowerke: Fantasias a-moll F. 23, C-Dur F. 14, d-moll F. 19, e-moll F. 20, c-moll F. 15, d-moll F. 18, D-Dur F. 17, e-moll F. 21, c-moll F. 16; Fugen c-moll F. 32 & F-Dur F. 33; Cembalosonaten C-Dur F. 200, F-Dur F. 6a, e-moll F. 204, C-Dur F1a, D-Dur F. 4, Es-Dur F. 201, C-Dur F. 2, A-Dur F. 8, F-Dur F. 202, Es-Dur F. 5, D-Dur F. 3, G-Dur F. 7, B-Dur F. 9; Polonaisen F. 12 Nr. 1-12; Konzert für Cembalo solo G-Dur F. 40; Suite g-moll F. 24; Fugen F. 31 Nr. 1-8; Menuett g-moll F. 25 / 1; Presto d-moll F. 25a; La caccia C-Dur F. 26c; La Reveille C-Dur F. 27; Gigue G-Dur F. 28: Prelude g-moll F-29; Marsch Es-Dur F. 30; Polonaise & Trio C-Dur F. 13; Fantasia G-Dur F. 22; Menuette, Fantasias, Ouvertüre, Allegros, Ouvertüre aus dem Vilnius Manuskript; Menuett mit 13 Variationen G-Dur
+Orgelwerke: Christus, der ist mein Leben; Die Seele Christi heilge mich; Sey Lob und Ehr; Nun freuet euch, lieben Christen; Nun komm der Heiden Heiland; Christe, der du bist Tag und Licht; Jesu, meine Freude; Durch Adams Fall ist ganz verderbt; Wir danken dir, Herr Jesu Christ; Wir Christenleut han jetz und Freud; Was mein Gott will, das g’scheh allzeit; Fugen
+Kantaten: Lasset uns ablegen die Werke der Finsternis; Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste; Dies ist der Tag; Erzittert und fallet
+Bach: Orchestersuite Nr. 5

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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